Muschelseide im neuen Jahrtausend (2000 bis 2020)
In der textilen Fachliteratur zwischen 1950 und 2000 war die Muschelseide kaum ein Thema. Wenn sie überhaupt erwähnt wurde, erschien sie unter „seltenen“ oder „weiteren“ Textilfasern. Dies änderte sich kurz vor der Jahrtausendwende. Daniel McKinley (1924- 2010), emeritierter Professor für Biologie der University of Albany, N.Y. USA, publizierte 1998 in der in Europa kaum bekannten kanadischen Zeitschrift Ars Textrina – A Journal of Textiles and Costume eine umfangreiche Studie über die Geschichte der Muschelseide: Pinna and her silken beard: a foray into historical misappropriations. McKinleys Studie muss als die entscheidende Wende in der Rezeptionsgeschichte der Muschelseide betrachtet werden. Sie ist mit über 400 Bibliographieangaben bis heute die umfangreichste und fundierteste Arbeit zum Thema. Auf dem Hintergrund akribischer Analyse von Texten aus der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts löst er unzählige Missverständnisse und korrigiert Fehlzuschreibungen. Er zerzaust aber auch mit bissiger Ironie manch schöne Legende und bringt sie auf den Boden der Realität zurück. Ein Grossteil der in den letzten Jahren inventarisierten Objekte hätte ohne seine Angaben nicht gefunden werden können. Eines ist klar: McKinleys Buch ist für alle, die sich in Zukunft mit dem Thema Muschelseide beschäftigen möchten, ein unverzichtbares Arbeitsinstrument. Da die Publikation in europäischen Bibliotheken äusserst schwer zu finden ist, steht sie allen Interessierten – mit Einverständnis der Erben des Autors – als pdf-Datei zur Verfügung im Kapitel Bibliographie → Monographien.
In der Schweiz begann das Projekt Muschelseide 1997 am Naturhistorischen Museum Basel, und zwar mit einer thematischen Vitrine anlässlich eines Familiensonntags über Muscheln und Schnecken. Bereits konnten die ersten entdeckten Objekte gezeigt werden: Handschuhe aus Berlin und aus Rostock. Dank der Publikation von Daniel McKinley kamen bald weitere Objekte dazu, so dass 2004 an der weltweit ersten thematischen Ausstellung bereits mehr als 20 Muschelseideobjekte aus europäischen und US-amerikanischen Sammlungen gezeigt werden konnten. Die Ausstellung Muschelseide – Goldene vom Fäden vom Meeresgrund / Bisso Marino – fili d’oro dal fondo del mare fand vom 19. März bis 27. Juni 2004 im Naturhistorischen Museum Basel in Zusammenarbeit mit dem Museum der Kulturen Basel statt. Der Katalog der Ausstellung ist die erste illustrierte Monographie und – wie alle Texte von Ausstellung, Plakat und Begleitbroschüre – komplett zweisprachig, in Deutsch und Italienisch geschrieben.
An der Vernissage der Ausstellung sang eine Schulklasse aus Tarent, deren Lehrerin, Evangelina Campi, das Thema Muschelseide im Schulunterricht bearbeitet hatte. In der Folge publizierte sie ein Buch über die Bedeutung der Muschelseide in Tarent, mit vielen historischen Aufnahmen.
In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Generalkonsulat in Neapel konnte die (reduzierte) Basler Wanderausstellung tatsächlich 2006 in Tarent und anschliessend in Zusammenarbeit mit der Stazione di biologia di Porto Cesareo und der Università del Salento in Lecce gezeigt werden. 2008/2009 schliesslich wurde eine erweiterte Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Museo cantonale di storia naturale in der Villa Ciani in Lugano gezeigt. Erstmals wurden bisher unbekannte Textilobjekte aus Sant’Antioco ausgestellt – und Ignazio Marrocu und Donatella Balia repräsentierten zum ersten Mal das Museo Etnografico der Cooperativa Archeotur in Sant’Antioco in der Schweiz.
Im September 2018 fand im Archivio di Stato in Tarent, unter der Direktion von Dr. Lucia D’Ippolito, eine Ausstellung statt: Ulivo e Bisso Marino. Il mediterraneo che unisce. Dabei kamen zum ersten Mal Muschelseideobjekte aus privaten Sammlungen an die Öffentlichkeit, alle von lokalen Weberinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde klar, dass noch vor Rita del Bene, deren Bedeutung relativ gut aufgearbeitet ist, vor allem die Schwestern Cesira und Filomena Martellotto sowie Filomena Pavone eine grosse Rolle spielten. Auch schriftliche Dokumente und Fotografien wurden gezeigt, welche die Geschichte der Muschelseide in Tarent ergänzen.
Die erste Reise hatte mich bereits 1998 nach Sardinien und Sant’Antioco geführt; es folgten mehrere weitere im Laufe der Jahre. Eine Begegnung im Jahr 2009 mit Efisia Murroni (1913-2013) und ihrer Tochter Emma Baghino bleibt unvergessen. Bereits im Alter von 15 Jahren hatte sie im Atelier von Italo Diana die Verarbeitung von Wolle, Leinen und Muschelseide gelernt. Nach dem Tod von Jolanda Sitzia war sie die letzte überlebende Schülerin von Italo Diana. Ihr Wissen hat sie an viele Mädchen und Frauen weitergegeben, u.a. auch an Assuntina und Giuseppina Pes (https://www.facebook.com/sorellepes/). Ein berührendes Bild – mit Muschelseide auf Leinen gestickt – zeugt davon: A EFISIA MURRONI . MAESTRA NELL’ANTICA ARTE DEL BISSO . PER AVERCI TRAMANDATO LE SUE CONOSCENZE … CON INFINITA GRATITUDINE E AMMIRATO RISPETTO . UN GRAZIE DI CUORE . ASSUNTINA E GIUSEPPINA PES – 2008 (Für Efisia Murroni, Meisterin des antiken Handwerks der Muschelseide – dass sie uns ihr Wissen weitergegeben hat – in unendlicher Dankbarkeit und bewunderndem Respekt – ein herzliches Dankeschön – Assuntina und Giuseppina Pes 2008) Die Schwestern Pes hatten bei Leonilde Mereu die traditionellen sardischen Webtechniken (a punto, a pibiones, da mustrra de licciu) gelernt. Ein grosser Wandteppich in der Bäckerei Calabrò in Sant’Antioco – hier wurde keine Muschelseide verwendet – zeugt von ihrem Können. Bereits 1984 gründeten sie die Cooperativa Sant’Antioco Martire, in der sie Webkurse gaben. Die Herstellung und Verarbeitung von Muschelseide lernten sie Ende der 1990er Jahre bei Efisia Murroni. Mit dem wenigen vorhandenen Byssus gaben sie ihr Wissen – auch im Auftrag der Region Sardinien – in ihrer Cooperativa an die SchülerInnen weiter. Ihre grosse handwerkliche Begabung zeigen sie auch in ihren Arbeiten mit Muschelseide.
Sant’Antioco spielt eine zwiespältige Rolle im Thema Muschelseide. Si scoprono nuovi maestri della tessitura del bisso – das war der Titel des ersten Artikels einer Serie des sardischen Schriftstellers und Journalisten Claudia Moica in der Gazzetta del Sulcis, einer wöchentlich erscheinenden sardischen Zeitschrift. Ziel der Artikelserie aus dem Jahr 2014 war es, die vergessenen Zeugen der Muschelseideverarbeitung in Sant’Antioco ans Licht zu bringen: “La cosa che stupisce è che l’amministrazione comunale di Sant’Antioco non tuteli la professionalità di Maestri come le sorelle Pes che potrebbero essere un valore aggiunto per la città lagunare; infatti avvalendosi delle loro idee si potrebbe dare una connotazione specifica e duratura.” Ein Interview mit Emma Diana Foscaliano, Italos Tochter, endet mit dem Aufruf: ”Forse è arrivato il momento che le istituzioni valorizzino la figura di un loro concittadino che ha dato lustro alla Sardegna, lasciando traccia della sua vita con degli studi approfonditi o, perlomeno, dedicandogli una via visto che da morti le onorificenze non vengono più concesse.” (Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Institutionen einen ihrer Mitbürger, der Sardinien Glanz verliehen hat, aufwerten, indem sie eine Spur seines Lebens mit vertieften Studien hinterlassen oder ihm zumindest einen Strassennamen widmen. Einem Toten werden keine Ehrungen mehr vergeben.) Ein weiterer Artikel über Efisia Murroni spricht direkt die Gemeindeverantwortlichen an: ”Considerato che le cose preziose devono essere custodite adeguatamente ma anche rese pubbliche, perché non raccogliere tutte le opere e conservarle a futura memoria presso il museo etnografico del paese? All’amministrazione comunale l’arduo compito!” Im letzten Artikel der Serie von Claudio Moica erinnern sich Rosanna und Giovannino Cossu ihrer Mutter Jolanda Sitzia, die ebenfalls Schülerin von Italo Diana war. Auch dieser Artikel endet mit einem öffentlichen Aufruf: “All’amministrazione comunale di Sant’Antioco il dovere di risposta, meglio se con atti pubblici!”
Die grosse Bedeutung, die Italo Diana für die Geschichte der Muschelseide auf Sardinien hatte, wurde lange, zu lange verschwiegen. Sant’Antioco schuldet ihm viel. Claudio Moica war gehört worden. Vor dem Gemeindehaus sollte er mit dem Piazza Italo Diana geehrt werden, wie es im Beschluss Nr. 44 des Gemeinderats vom 31. März 2015 festgehalten wurde: Sig. Italo Diana maestro d’arte e artigiano del bisso. Leider wurde daraus ’nur’ ein Maestro di Arti Tessili – weshalb durfte die Muschelseide nicht erwähnt werden?
Ein weiterer Durchbruch dauerte aber noch vier Jahre. Am 3. Mai 2019 fand dank dem erneuten Einsatz von Antonella Senis im Museo Archeologico Comunale Ferruccio Barreca in Sant’Antioco die Einweihung einer einmaligen Ausstellung statt: ITALO DIANA, Ordito e trama di un’arte antica. Zum ersten Mal wurde damit eine Person geehrt, ohne die es in Sant’Antioco keine Muschelseideverarbeitung mehr geben würde. Dies ist den Grosskindern zu verdanken, die bereit waren, ihre privaten Textilschätze der Öffentlichkeit zu zeigen. Schade nur, dass die Ausstellung bereits nach einem Monat geschlossen wurde – oder werden musste. Manche Touristen, die wegen der Muschelseide nach Sant’Antioco kommen, hätten so einen erweiterten, neuen Einblick in die Geschichte erhalten.
Die Ausstellung hat eine weitere Person ans Licht gebracht, welche mit Muschelseide arbeitete: Emma Diana Foscaliano, eine der Töchter Italo Dianas. Auch sie hat mit Muschelseide ihres Vaters unzählige Stickereien und textile Accessoires verfertigt. Mehr darüber im Kapitel Handwerkliche Aspekte → Anwendungen und im Inventar. Emma war es auch, die den Schwestern Pes einen grossen Korb mit gereinigten Faserbärten aus den Anfängen des Ateliers von Italo Diana schenkte, im Vertrauen, dass die Schwestern es im Sinne ihres Vaters verwenden würden.
Eine leider notwendige Anmerkung: Wenn heute der Begriff Muschelseide gegoogelt wird, taucht – neben dem Projekt Muschelseide – ein Begriff auf: Museo del bisso in Sant‘Antioco. Seine Protagonistin, Chiara Vigo, zeigt in einem privaten Raum den Weg der Verarbeitung vom rohen Byssus zur Muschelseide und stellt kleine Webstücke her. Darüber hinaus aber verkauft sie sich als letzte und einzig wahre Muschelseideweberin. Mit unglaublicher Chuzpe und Unverfrorenheit erfindet sie – fern von allen Fakten – ihre ganz eigene achttausendjährige Geschichte der Muschelseide und spinnt und spinnt und spinnt sie unermüdlich weiter. Dies zur Freude von Touristikern und Touristen und, natürlich, sämtlicher Medien weltweit. Leider spielt auch der Vatikan eine eigenartige Rolle, seit unsere Protagonistin 2005 den Volto Santo von Manoppello, der von Gläubigen als “Foto von Jesus“ verehrt wird, zur Muschelseide erklärte (es ist Byssus im antiken Sinn: also mit grosser Wahrscheinlichkeit feinstes Leinen) (Maeder 2016). Man könnte darüber lachen, wenn diese neuen Legenden nicht auch in der wissenschaftlichen Literatur ihren Niederschlag finden würden. Wer hat die Definitionsmacht?
“Wir erkennen die Realität nicht mehr, und irgendwann einmal vergessen wir sie.“
(NZZ, 22.3.2018) Die Auswirkungen gehen über das Lokale hinaus. Zwei Beispiele: Weshalb konnte die Wanderausstellung aus Basel ausgerechnet in Sardinien nicht gezeigt werden – weder in Sant’Antioco noch sonstwo auf der Insel? Und weshalb wird die sardische Tradition der Muschelseide-Verarbeitung im bedeutendsten ethnographischen Museum Sardiniens, im Museo del Costume in Nuoro, das eine grossartige Vielfalt an Trachten und Textilprodukten zeigt, mit keinem Wort und keinem Bild erwähnt? Es wäre – im Marketingjargon gesprochen – die USP, die unique selling proposition! Keine Insel, kein Land, kein anderer Kontinent kann sich mit diesem Kulturerbe brüsten.
Wer mehr wissen möchte über die Muschelseide in Sant’Antioco, dem empfehle ich folgende Bücher:
Die englische Marinebiologin Helen Scales recherchierte in Sant’Antioco die Herstellung und Verarbeitung von Muschelseide und publizierte ihre Ergebnisse 1915 im Kapitel Spinning Shell Stories in ihrem Buch Spirals in Time: The Secret Life and Curious Afterlife of Seashells (Bloomsbury 2015, 145-171). Der grosse Erfolg des Buches führte zu einer italienischen Übersetzung: Spirali nel tempo – le conchiglie e noi mit dem Kapitel VI über Muschelseide: Le conchiglie che filano (Beit Scienza 2017, 127-152).
Auch den englischen Schriftsteller Edward Posnett führte die Faszination für die Muschelseide nach Sardinien. In seinem 2019 erschienenen Buch Harvest – The Hidden Histories of Seven Natural Objects zeigt ein Kapitel seine Irritation über die sich widersprechenden Erzählungen über die Muschelseide in Sant’Antioco. Resultat ist eine hervorragende Analyse der Situation (Kapitel Sea Silk, The Bodley Head, London 2019, 123-170). Auch dieses überaus erfolgreiche Buch wird übersetzt und erscheint 2020 in Deutsch unter dem Titel Die Kunst der Ernte: Siebe kleine Naturwunder und ihre Geschichten (Edward Posnett and Sabine Hübner, Hanser 2020).
Auch auf der wissenschaftlichen Ebene hat sich viel getan. Seit dem ersten Kongress 2005 in Athen habe ich an 15 Kongressen teilgenommen (Cork 2005, Belfast 2007, Troyes 2009, Castelen bei Basel 2012, Lecce 2013, Kopenhagen 2014, Wien und Toronto 2015, Milano, Antibes und Padua 2016, London und Oxford 2017). So konnte ich das Wissen über die Muschelseide an Archäologen und Textilhistorikerinnen, an Sammlungs- und Museumsfachleute vermitteln. Daraus sind 16 Publikationen entstanden in Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Mehr darüber im Kapitel Bibliographie → Projektpublikationen.
Im Jahr 2013 organisierten die Abteilung für kulturelles Erbe der Universität Salento und das Zentrum für Textilforschung der Universität Kopenhagen gemeinsam in Lecce einen ersten Kongress zur Muschelseide (zusammen mit Purpur): Treasures of the Sea – Sea silk and purple day in Antiquity. Mein Keynote-Vortrag ist Teil des Tagungsbandes, veröffentlicht in Ancient Textiles Series 30 (Maeder 2017b). Assuntina und Giuseppina aus Sant’Antioco konnten vor Ort den ganzen Prozess der Muschelseideverarbeitung demonstrieren. Und Inge Boesken-Kabold zeigte, wie eine echte Purpurküpe hergestellt wird; die Muschelseide allerdings liess sich nicht färben.
2014 fand der Kongress Textile Terminologies from the Orient to the Mediterranean and Europe, 1000 BC to 1000 AD am Zentrum für Textilforschung der Universität Kopenhagen statt. In meinem Keynote-Vortrag Irritating Byssus – Etymological Problems, Material facts, and the Impact of Mass Media, griff ich zum ersten Mal den fragwürdigen Umgang der Medien mit dem Thema Muschelseide auf, vor allem in Sardinien (Maeder 2017a).
2015 fand an der Katholischen Akademie in Wien die Tagung Spuren vom Heiligen Antlitz: Sindon, Sudarium, Mandylion, Veronica, Volto Santo statt. Ich referierte mit Bezug zum Volto Santo von Manoppello zum Thema Byssus oder Muschelseide? Mythen, Legenden und etymologische Fakten (Maeder 2016).
Ein sehr schöner illustrierter Artikel über die Muschelseideweberinnen Assuntina und Giuseppina Pes und Arianna Pintus erschien 2018 im edlen Journal der Uhrenfirma PATEK PHILIPPE – in den Sprachen Deutsch (pdf), Italienisch (pdf), Französisch (pdf), Spanisch (pdf), Englisch(pdf), Japanisch (pdf), Mandarin (pdf), und einfachem Chinesisch (pdf).
1999 erschien in der deutschen Zeitschrift MARE (13, 1999) mein erster Artikel über die Muschelseide. 20 Jahre später, 2019, berichtete „Marina – das nautische Magazin der Schweiz“ über das Projekt, in einer deutschen (pdf) und einer französischen (pdf) Fassung (marina.ch 127, 2019).