Biologische Aspekte
Das erste ausschliesslich Muscheln und Schnecken gewidmete Buch erschien 1681: Ricreatione dell’occhio e della mente nell’osservation’ delle chiocciole von Filippo Buonanni (1638-1725). Es ist eines der ersten naturwissenschaftlichen Bücher, das in einer modernen Sprache – hier Italienisch – verfasst ist. Unter den Kupferstichen finden sich auch zwei Steckmuscheln mit Faserbart. Buonanni kannte die Verwendung des Faserbarts als Textilmaterial, für den er den Begriff bisso marino, also Meeresbyssus verwendet und diesen dem bisso terrestre gegenüber stellt, also dem Byssus ‚vom Land‘, aus Leinen oder Baumwolle. Erste Untersuchungen des Byssus der Pinna nobilis gehen ins frühe 18. Jahrhundert zurück.
Ein kurzes Video zeigt die Rettungsaktion einer grossen Population von Pinna nobilis in der Nähe der Insel Giglio, in der Toskana. Nach der Schiffskatastrophe der Costa Concordia in 2013 haben Meeresbiologen der römischen Universität Sapienza die unter dem Schiffswrack liegenden Muscheln ausgegraben und einige hundert Meter entfernt wieder angesiedelt. Ob die Muscheln überlebt haben, ist nicht bekannt.
Verarbeitete Muschelseide kann von Auge kaum von Maulbeerseide unterschieden werden. Dank deutlich elliptischem Querschnitt der Byssusfasern, wie er sonst bei keiner Naturfaser vorkommt, kann sie jedoch leicht unter dem Durchlichtmikroskop nachgewiesen werden. Aufnahmen mit dem Rasterelektronenmikroskop zeigen die Oberfläche, physikalisch-chemische Untersuchungen weitere Eigenschaften der Byssusfaser der Pinna nobilis. 2002 und 2010 wurden an der EMPA St.Gallen Untersuchungen an gereinigten Byssusfasern durchgeführt. Auch erste Färbversuche mit echtem Purpur sowie mit chemischen Farben wurden unternommen.
Die Edle Steckmuschel (Pinna nobilis L.)
Stamm: |
Mollusca |
Klasse: |
Bivalvia Linnaeus, 1758 |
Ordnung: | Pterioida Newell, 1965 |
Familie: | Pinnidae Leach, 1819 |
Gattung: | Pinna Linnaeus, 1758 |
Art: | Pinna nobilis Linnaeus, 1758 |
Die sesshafte Steckmuschel ernährt sich von Plankton; dazu filtriert sie stündlich rund 6 Liter Wasser. Als Zwitter produziert sie weibliche und männliche Keimzellen, die sie alternierend in den Monaten Juni bis August ins Wasser abgibt. Nach der Befruchtung entwickeln sich frei schwimmende Larven, die bereits nach wenigen Tagen, sobald sie eine dünne Kalkschale gebildet haben, auf den Boden sinken. Nun bildet die Muschel die ersten Byssusfäden, wächst fest sitzend und erreicht bereits im ersten Jahr eine Grösse von 10 bis 15 cm; ausgewachsen können die Muscheln bis zu 120 cm gross und über 50 Jahre alt werden.
Noch im 18. Jahrhundert sind dichte Bestände bezeugt: „…da wohnen die zahlreichsten Colonien und Familien derselben, welche … gleichsam unterirdische Städte und Dörfer ausmachen, darinnen die ältesten Stammväter wie Thürme hervorragen“ (Chemnitz 1777). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Bestände zusammengebrochen. Gründe für den Rückgang sind einerseits Zerstörungen durch Schleppnetzfischerei sowie Ankerungen und Übernutzung durch Freizeittaucher. Andererseits sind die Seegraswiesen, der Lebensraum der Pinna, bedroht durch Überdüngung und die Verbreitung der so genannten ‚Killeralge‘ Caulerpa taxifolia (Vahl). 1992 wurde die Pinna nobilis in der Europäischen Union (EU) und in Kroatien unter Schutz gestellt; dieser wurde 2006 erneuert (s. pdf eur_lex). Im Jahr 2000 schwankten die Bestände zwischen einem Tier bis zu 30 Tieren pro 100 m2. Trotz der Unterschutzstellung sind viele Bestände weiterhin bedroht, da der Schutz der Muschel nicht umgesetzt oder nicht beachtet wird. „… P. nobilis is still commercially exploited and served in Greek fish restaurants. In addition, poaching by recreational or professional fishers and divers for personal consumption or collection of its shell is quite significant and appears to be a major threat to the conservation of the species.“ (Katsanevakis et al. 2011) Noch vor wenigen Jahren war das Fleisch der Pinna nobilis – verbotenerweise – auch in bestimmten süditalienischen Restaurants erhältlich.
Eine neue, in ihrem Ausmass und ihren Auswirkungen noch viel massivere Gefahr, wurde erstmals 2016 an der spanischen Mittelmeerküste entdeckt: ein Massensterben der Edlen Steckmuschel, das inzwischen auch Gewässer vor Frankreich, Italien und Griechenland erreicht hat. Die Ursache ist mittlerweile bekannt: Ein Parasit namens Haplosporidium pinnae, der sich in der Verdauungsdrüse des Tieres einnistet, dort vermehrt und das Gewebe zersetzt. Die Muschel verhungert (Darriba 2017, Catanese et al. in press, Panarese et al. 2019, Katsanevakis et al. 2019 (pdf), Lopez-Sanmartín et al. 2019 (pdf), Tsirintanis et al 2019 (pdf), Garcia March et al. 2020 (pdf).
Biologie des Faserbarts (Byssus)
Der Faserbart (zool. Byssus) ist ein Büschel von sehr feinen, reissfesten Fasern, welche durch die im Fuss der Muschel liegende Byssusdrüse gebildet werden. Die Oberfläche ist glatt, mit sehr feinen Längsrillen, der Durchmesser ist vergleichbar mit anderen tierischen und pflanzlichen Fasern. Im Moment der Faserbildung formt sich der bewegliche, rund 9 cm lange Fuss zu einem Kanal, durch den das in der Byssusdrüse gebildete Eiweiss-Sekret fliesst. Mit der Fussspitze wird das Sekret auf eine geeignete Unterlage – Wurzeln des Seegrases, Sand, Steine – aufgebracht. Im Kontakt mit dem Wasser verhärtet sich das Sekret zur Byssusfaser. Im Gegensatz zu anderen Bivalvien, wie zum Beispiel der Miesmuschel (Mytilus edulis), haben die Byssusfäden der Edlen Steckmuschel an deren Ende keine Haftplättchen, sondern fächerförmige Haftstellen.
Aufnahmen der Byssusfaser mit dem Rasterelektronenmikroskop REM zeigen eine fast glatte Oberfläche, ohne Schuppen, mit feinen Längsrillen, manchmal mit krümeligen Stellen.
Der Faserquerschnitt der Byssusfaser ist – im Unterschied zu allen übrigen natürlichen Fasern – deutlich elliptisch oder mandelförmig. Er zeigt keine Struktur.
Der Faserdurchmesser variiert innerhalb einer einzelnen Faser. Er liegt mit 10-50 μm im Bereich anderer natürlicher Fasern, zum Beispiel Maulbeerseide oder Ägyptisches Leinen 11-15 μm, Merinowolle 18-25 μm, Baumwolle 12-35 μm, Mohair/Alpaka 20-40 μm. Aus der Antike sind Leinengewebe mit einem Garndurchmesser von 50 μm und einem Durchmesser der einzelnen Faser von 11 μm bekannt (Cook & El-Gamal 1990). Damit ist die oft wiederholte Behauptung, Muschelseide sei um vieles feiner als die feinsten Seiden – molto più fine delle sete più fini – widerlegt (Zanetti 1964).
Mittels Infrarotspektroskopie kann Muschelseide nicht von anderen Seiden oder tierischen Fasern unterschieden werden, da sie einen ähnlichen chemischen Aufbau besitzen. Das Infrarotspektrum zeigt das typische Spektrum von Proteinen. Alle Protein- bzw. Eiweissfasern, also alle tierischen Fasern zeigen das gleiche Spektrum: bei 3300 cm-1 die Amino und Hydroxybanden, bei 2800cm-1 die CH-Schwingungen und bei 1650 cm-1 die charakteristischen Schwingungen für die Amidgruppen bei Proteinen. Bei diesen unterscheiden sie sich deutlich von den Naturfasern aus Cellulose, welche keine Amidgruppen besitzen. Muschelseide kann daher leider nicht mit der einfachen und zerstörungsfreien Infrarot-Spektroskopie (IR) einwandfrei nachgewiesen werden, da alle tierischen Fasern bei der IR-Untersuchung die gleichen Banden zeigen.
Der deutlich niedrigere Gehalt an Stickstoff als bei anderen tierischen Fasern ist ein charakteristisches Merkmal für die Identifizierung der Muschelseide. Allerdings benötigt man für diese Methode ca. 150 mg Fasermaterial, was bei den meisten zu untersuchenden Objekten nicht in Frage kommen dürfte.
Verschiedene natürliche Fasern und ihr Stickstoffgehalt:
Muschelseide | 13,0 ± 0, 3 % |
Angora | 15,6 ± 0,3 % |
Wolle | 15,2 ± 0,3 % |
Mohair | 15,3 ± 0,3 % |
Tussah | 17,1 ± 0,3 % |
Naturseide | 17,7 ± 0,3 % |
2010 wurden an der EMPA St.Gallen Reissfestigkeit und Dehnung von Byssusfasern der Pinna nobilis untersucht. Dabei wurden 20 Einzelfasern – 10 trocken, 10 mit Salzwasser benetzt – gerissen. Vorher wurde die Feinheit (Titer) bestimmt, also eine präzise Länge genommen und gewogen. Damit kann die Muschelseide auch mit anderen Fasern verglichen werden. Hier einige Resultate: Muschelseide ist enorm dehnbar, insbesondere in nassem Zustand. Die Festigkeit nimmt in nassem Zustand um 47% ab (was bei Eiweissfasern immer der Fall ist, hier aber besonders hoch). Die Festigkeit ist im Vergleich mit anderen Fasern gering, sogar schwächer als Wolle: Muschelseide 6.9 cN/tex (Wolle 10-20 cN/tex, Seide 25- 50 cN/tex, Baumwolle 30-40 cN/tex). Muschelseidefasern sind nicht sehr regelmässig (Faser zu Faser verglichen).
Reiss_DehnungsversucheMS Daten (pdf, 49.1 KB)
Reiss_DehnungsversucheMS Dehnung(nass) (pdf, 50.1 KB)
Reiss_DehnungsversucheMS Dehnung(trocken) (pdf, 50.3 KB)
Reiss_DehnungsversucheMS Kraft(nass) (pdf, 49.7 KB)
Reiss_DehnungsversucheMS Kraft(Trocken) (pdf, 49.3 KB)
ReissversuchMS-Einzelfaser Tabelle1 (pdf, 49.1 KB)