Biologische Aspekte

Die Edle Steckmuschel (Pinna nobilis L.), die nur im Mittelmeer vorkommt, fasziniert Naturforscher seit der Antike. Schon Aristoteles und Plinius der Ältere haben ihre Lebensweise und ihren Begleiter, den Pinnenwächter – eine Krabbenart – beschrieben. Bei Ausgrabungen rund ums Mittelmeer sind unzählige Reste von Schalen gefunden worden, was darauf schliessen lässt, dass die Pinna zur üblichen Nahrung gezählt werden kann. Eine ausgewachsene Steckmuschel kann bis zu einem Kilo Muschelfleisch liefern. Seit wann ihr Faserbart, der Byssus, als Textilmaterial verwendet wird, ist nicht bekannt. Älteste Textquellen gehen auf das 2. Jahrhundert nach Christus zurück, der älteste materielle Fund auf das 4. Jahrhundert nach Christus.
Steckmuschel mit Faserbart (Byssus), Byssusfasern vergrössert mit Haftstellen, unten der Pinnenwächter (Pinnotheres), Poli 1795
Erstes Buch über Muscheln und Schnecken, Buonanni 1681

Das erste ausschliesslich Muscheln und Schnecken gewidmete Buch erschien 1681: Ricreatione dell’occhio e della mente nell’osservation’ delle chiocciole von Filippo Buonanni (1638-1725). Es ist eines der ersten naturwissenschaftlichen Bücher, das in einer modernen Sprache – hier Italienisch – verfasst ist. Unter den Kupferstichen finden sich auch zwei Steckmuscheln mit Faserbart. Buonanni kannte die Verwendung des Faserbarts als Textilmaterial, für den er den Begriff bisso marino, also Meeresbyssus verwendet und diesen dem bisso terrestre gegenüber stellt, also dem Byssus ‚vom Land‘, aus Leinen oder Baumwolle. Erste Untersuchungen des Byssus der Pinna nobilis gehen ins frühe 18. Jahrhundert zurück. 

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Historische Quellen:
Gessner 1553, 1558, Rondelet 1554/55, Aldrovandi 1606, Colonna 1616, de Réaumur 1714, Dezallier d’Argenville 1742, Lavini 1835, Müller 1837.

Ein kurzes Video zeigt die Rettungsaktion einer grossen Population von Pinna nobilis in der Nähe der Insel Giglio, in der Toskana. Nach der Schiffskatastrophe der Costa Concordia in 2013 haben Meeresbiologen der römischen Universität Sapienza die unter dem Schiffswrack liegenden Muscheln ausgegraben und einige hundert Meter entfernt wieder angesiedelt. Ob die Muscheln überlebt haben, ist nicht bekannt.

Verarbeitete Muschelseide kann von Auge kaum von Maulbeerseide unterschieden werden. Dank deutlich elliptischem Querschnitt der Byssusfasern, wie er sonst bei keiner Naturfaser vorkommt, kann sie jedoch leicht unter dem Durchlichtmikroskop nachgewiesen werden. Aufnahmen mit dem Rasterelektronenmikroskop zeigen die Oberfläche, physikalisch-chemische Untersuchungen weitere Eigenschaften der Byssusfaser der Pinna nobilis. 2002 und 2010 wurden an der EMPA St.Gallen Untersuchungen an gereinigten Byssusfasern durchgeführt. Auch erste Färbversuche mit echtem Purpur sowie mit chemischen Farben wurden unternommen.

Seit den 1980er Jahren werden Byssusfasern im Hinblick auf eine medizinische Verwendung im nassen Bereich, z.B. in der Zahnmedizin, erforscht. Diese Forschung wird aber nie mit dem Byssus der Pinna nobilis gemacht, sondern mit dem Byssus der Miesmuschel (Mytilus edulis oder Mytilus galloprovincialis).

Die Edle Steckmuschel (Pinna nobilis L.)

Stamm:

Mollusca 

Klasse:

Bivalvia Linnaeus, 1758

Ordnung: Pterioida Newell, 1965
Familie: Pinnidae Leach, 1819
Gattung: Pinna Linnaeus, 1758
Art: Pinna nobilis Linnaeus, 1758

 

Die Edle Steckmuschel (Pinna nobilis L.) in ihrem Lebensraum, der Seegraswiese (de Gaulejac & Vicente 1990)

Offene Pinna in ihrem Lebensraum, der Seegraswiese (de Gaulejac und Vicente 1990)

Anatomie der Pinna nobilis, Poli 1795, Tafel 36

Anatomie der Pinna nobilis, Poli 1795, Tafel 37

Anatomie der Pinna nobilis, Czihak-Dierl 1961

Die Edle Steckmuschel (Pinna nobilis L.) ist die grösste im Mittelmeer lebende Muschel; sie ist dort endemisch. Ihr Lebensraum sind Seegraswiesen der Arten Posidonia oceanica (L.) oder Cymodocea nodosa (Ucria). Die Muschel bevorzugt mehr oder weniger geschlossene, geschützte Buchten mit geringer Wassertiefe bis maximal 40 m. Die wichtigsten Faktoren, die den Lebensraum der Pinna nobilis kennzeichnen, sind gute Lichtverhältnisse, grundsätzlich sauberes Wasser, geringe jahreszeitliche Schwankungen des Salzgehaltes (3,4 bis 4 %), gemässigte Temperaturen (7 bis 28°C) und eine normalerweise gleichmässige, langsame Strömung mit genügend Nährstoffen.

Die sesshafte Steckmuschel ernährt sich von Plankton; dazu filtriert sie stündlich rund 6 Liter Wasser. Als Zwitter produziert sie weibliche und männliche Keimzellen, die sie alternierend in den Monaten Juni bis August ins Wasser abgibt. Nach der Befruchtung entwickeln sich frei schwimmende Larven, die bereits nach wenigen Tagen, sobald sie eine dünne Kalkschale gebildet haben, auf den Boden sinken. Nun bildet die Muschel die ersten Byssusfäden, wächst fest sitzend und erreicht bereits im ersten Jahr eine Grösse von 10 bis 15 cm; ausgewachsen können die Muscheln bis zu 120 cm gross und über 50 Jahre alt werden.

Noch im 18. Jahrhundert sind dichte Bestände bezeugt: „…da wohnen die zahlreichsten Colonien und Familien derselben, welche … gleichsam unterirdische Städte und Dörfer ausmachen, darinnen die ältesten Stammväter wie Thürme hervorragen“ (Chemnitz 1777). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Bestände zusammengebrochen. Gründe für den Rückgang sind einerseits Zerstörungen durch Schleppnetzfischerei sowie Ankerungen und Übernutzung durch Freizeittaucher. Andererseits sind die Seegraswiesen, der Lebensraum der Pinna, bedroht durch Überdüngung und die Verbreitung der so genannten ‚Killeralge‘ Caulerpa taxifolia (Vahl). 1992 wurde die Pinna nobilis in der Europäischen Union (EU) und in Kroatien unter Schutz gestellt; dieser wurde 2006 erneuert (s. pdf eur_lex). Im Jahr 2000 schwankten die Bestände zwischen einem Tier bis zu 30 Tieren pro 100 m2. Trotz der Unterschutzstellung sind viele Bestände weiterhin bedroht, da der Schutz der Muschel nicht umgesetzt oder nicht beachtet wird. „… P. nobilis is still commercially exploited and served in Greek fish restaurants. In addition, poaching by recreational or professional fishers and divers for personal consumption or collection of its shell is quite significant and appears to be a major threat to the conservation of the species.“ (Katsanevakis et al. 2011) Noch vor wenigen Jahren war das Fleisch der Pinna nobilis – verbotenerweise – auch in bestimmten süditalienischen Restaurants erhältlich.

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Studien zur Pinna nobilis, nach Ländern:
Kroatien (Zavodnik 1967, Zavodnik et al. 1991, Orepic et al. 1997, Siletic & Perharda 2003, Richardson et al. 2004);
Südfrankreich (Vicente 1980, de Gaulejac 1993, de Gaulejac & Vicente 1995); Korsika (de Gaulejac & Vicente 1990);
Griechenland (Catsiki & Catsikiery 1992, Katsanevakis 2005, 2006, 2007, Voultsidiadou et al. 2010, Katsanevakis et al. 2011);
Tunesien (Tlig-Zouari 1993, Rabaoui et al. 2007);
Sardinien (Porcheddu et al. 1998, Caronni et al. 2007, Addis et al. 2009);
Spanien (Richardson et al. 1999, Templado 2001, Garcia-March et al. 2002, 2005, 2006, 2007, Cabanellas-Reboredo et al. 2009);
Marokko (Guallart 2000)
Apulien Giacobbe 2002, Centoducati et al. 2007.

Eine neue, in ihrem Ausmass und ihren Auswirkungen noch viel massivere Gefahr, wurde erstmals 2016 an der spanischen Mittelmeerküste entdeckt: ein Massensterben der Edlen Steckmuschel, das inzwischen auch Gewässer vor Frankreich, Italien und Griechenland erreicht hat. Die Ursache ist mittlerweile bekannt: Ein Parasit namens Haplosporidium pinnae, der sich in der Verdauungsdrüse des Tieres einnistet, dort vermehrt und das Gewebe zersetzt. Die Muschel verhungert (Darriba 2017, Catanese et al. in press, Panarese et al. 2019, Katsanevakis et al. 2019 (pdf), Lopez-Sanmartín et al. 2019 (pdf), Tsirintanis et al 2019 (pdf), Garcia March et al. 2020 (pdf).

Biologie des Faserbarts (Byssus)

Der Faserbart (zool. Byssus) ist ein Büschel von sehr feinen, reissfesten Fasern, welche durch die im Fuss der Muschel liegende Byssusdrüse gebildet werden. Die Oberfläche ist glatt, mit sehr feinen Längsrillen, der Durchmesser ist vergleichbar mit anderen tierischen und pflanzlichen Fasern. Im Moment der Faserbildung formt sich der bewegliche, rund 9 cm lange Fuss zu einem Kanal, durch den das in der Byssusdrüse gebildete Eiweiss-Sekret fliesst. Mit der Fussspitze wird das Sekret auf eine geeignete Unterlage – Wurzeln des Seegrases, Sand, Steine – aufgebracht. Im Kontakt mit dem Wasser verhärtet sich das Sekret zur Byssusfaser. Im Gegensatz zu anderen Bivalvien, wie zum Beispiel der Miesmuschel (Mytilus edulis), haben die Byssusfäden der Edlen Steckmuschel an deren Ende keine Haftplättchen, sondern fächerförmige Haftstellen.

Schema Byssusproduktion bei der MIESMUSCHEL (Waite 1992:
The formation of mussel byssus: Anatomy of a natural manufacturing process)

Fuss der Pinna nobilis (dunkel) mit heraustretenden Byssusfasern

Die Byssusfaser der Pinna nobilis ist aus organischem Material aufgebaut, vorwiegend Eiweissen (Proteine) aus der Kollagen-Gruppe. Die ausgehärtete Faser lässt sich weder durch Wasser, Enzyme noch durch organische Lösungsmittel auflösen. Sie ist brennbar – entgegen einer weiteren zirkulierenden Legende: „Some other properties of byssus described in popular literature, like its being fireproof appear however to be only legendary; in fact, its threads glow in red and burn away like hair.“ (Jaworski 2010). Dieser Legende der Unbrennbarkeit liegt vermutlich die Tatsache zugrunde, dass früher Asbest auch als Byssus bezeichnet wurde, was wir in einem Mineralogiebuch aus dem 18. Jahrhundert erfahren: „Wir haben eine Erdichtung, dass die Alten sich vom faserigen Asbest Kleider gemacht, und den Asbest Byssus genennet haben; allein es ist dies unglaublich…“ (Cronstedt 1770).

Aufnahmen der Byssusfaser mit dem Rasterelektronenmikroskop REM zeigen eine fast glatte Oberfläche, ohne Schuppen, mit feinen Längsrillen, manchmal mit krümeligen Stellen.

Byssusfasern unter dem Mikroskop (Aufnahme A. Rast 2014)

Fächerförmige Haftstellen der Byssusfaser der Pinna nobilis. REM-Aufnahme EMPA St. Gallen

Elliptische Byssusfasern im Querschnitt, in Viskosefasern eingebettet. EMPA St. Gallen
Einzelne, glatte Byssusfaser im Querschnitt, REM-Aufnahme A. Rast

Der Faserquerschnitt der Byssusfaser ist – im Unterschied zu allen übrigen natürlichen Fasern – deutlich elliptisch oder mandelförmig. Er zeigt keine Struktur.

Der Faserdurchmesser variiert innerhalb einer einzelnen Faser. Er liegt mit 10-50 μm im Bereich anderer natürlicher Fasern, zum Beispiel Maulbeerseide oder Ägyptisches Leinen 11-15 μm, Merinowolle 18-25 μm, Baumwolle 12-35 μm, Mohair/Alpaka 20-40 μm. Aus der Antike sind Leinengewebe mit einem Garndurchmesser von 50 μm und einem Durchmesser der einzelnen Faser von 11 μm bekannt (Cook & El-Gamal 1990). Damit ist die oft wiederholte Behauptung, Muschelseide sei um vieles feiner als die feinsten Seiden – molto più fine delle sete più fini – widerlegt (Zanetti 1964).

Mittels Infrarotspektroskopie kann Muschelseide nicht von anderen Seiden oder tierischen Fasern unterschieden werden, da sie einen ähnlichen chemischen Aufbau besitzen. Das Infrarotspektrum zeigt das typische Spektrum von Proteinen. Alle Protein- bzw. Eiweissfasern, also alle tierischen Fasern zeigen das gleiche Spektrum: bei 3300 cm-1 die Amino und Hydroxybanden, bei 2800cm-1 die CH-Schwingungen und bei 1650 cm-1 die charakteristischen Schwingungen für die Amidgruppen bei Proteinen. Bei diesen unterscheiden sie sich deutlich von den Naturfasern aus Cellulose, welche keine Amidgruppen besitzen. Muschelseide kann daher leider nicht mit der einfachen und zerstörungsfreien Infrarot-Spektroskopie (IR) einwandfrei nachgewiesen werden, da alle tierischen Fasern bei der IR-Untersuchung die gleichen Banden zeigen.

Der deutlich niedrigere Gehalt an Stickstoff als bei anderen tierischen Fasern ist ein charakteristisches Merkmal für die Identifizierung der Muschelseide. Allerdings benötigt man für diese Methode ca. 150 mg Fasermaterial, was bei den meisten zu untersuchenden Objekten nicht in Frage kommen dürfte.

Verschiedene natürliche Fasern und ihr Stickstoffgehalt:

Muschelseide 13,0 ± 0, 3 %
Angora 15,6 ± 0,3 %
Wolle 15,2 ± 0,3 %
Mohair 15,3 ± 0,3 %
Tussah 17,1 ± 0,3 %
Naturseide 17,7 ± 0,3 %

2010 wurden an der EMPA St.Gallen Reissfestigkeit und Dehnung von Byssusfasern der Pinna nobilis untersucht. Dabei wurden 20 Einzelfasern – 10 trocken, 10 mit Salzwasser benetzt – gerissen. Vorher wurde die Feinheit (Titer) bestimmt, also eine präzise Länge genommen und gewogen. Damit kann die Muschelseide auch mit anderen Fasern verglichen werden. Hier einige Resultate: Muschelseide ist enorm dehnbar, insbesondere in nassem Zustand. Die Festigkeit nimmt in nassem Zustand um 47% ab (was bei Eiweissfasern immer der Fall ist, hier aber besonders hoch). Die Festigkeit ist im Vergleich mit anderen Fasern gering, sogar schwächer als Wolle: Muschelseide 6.9 cN/tex (Wolle 10-20 cN/tex, Seide 25- 50 cN/tex, Baumwolle 30-40 cN/tex). Muschelseidefasern sind nicht sehr regelmässig (Faser zu Faser verglichen).

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Weitere Quellen:
Seydel 1909, Pigorini 1922, Mercer 1972, Montegut 1999, Maeder & Halbeisen 2002, 2010, Jaworski 2010