Inventar

Das Projekt Muschelseide am Naturhistorischen Museum Basel begann 1998 mit der Suche nach Objekten und deren Inventarisierung. Das erwies sich als schwieriger als angenommen, da praktisch sämtliche Objekte nicht – wie zu erwarten war – in textilen oder volkskundlichen Sammlungen aufbewahrt werden, sondern in naturhistorischen Museen. Trotzdem konnten 2004, an der weltweit ersten ausschliesslich dem Thema Muschelseide gewidmeten Ausstellung in Basel bereits über 20 Objekte aus Europa und den USA gezeigt werden. In der Zwischenzeit enthält das Inventar über 80 Objekte.

Mit dem Rückverfolgen dieser Objekte erfahren wir ständig mehr über deren Geschichte. Was ist die Geschichte der heutigen Objektinhaber bzw. deren Institution? Wie kam das Objekt in die Sammlung? Wer war ihr Vorbesitzer? Wie kam es in deren Hände? Wo wurde es produziert? So erschliessen sich uns nach und nach die Produktionsorte und die Bedingungen der Herstellung, die Bedeutung von Handel und Geschenkaustausch, die Rolle von Grand Tour, Reiseliteratur, Tagebüchern, und wir lernen etwas über Wissensproduktion und Wissensaustausch unter historisch und naturkundlich interessierten Eliten in Kirche und Adel, über Landesgrenzen hinweg, teilweise über riesige Distanzen. Zunehmend werden Korrespondenzen von bekannten Personen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert editiert und online zugänglich gemacht. Ich hoffe, mit diesen neuen Ressourcen mehr über die Geschichte der inventarisierten Objekte zu lernen – und vielleicht weitere Objekte zu finden.

Bei vielen Textilien aus Muschelseide stellt sich die Frage, ob es sich dabei um getragene Kleidungsstücke oder um blosse Prestigeobjekte handelte. Waren Objekte aus Muschelseide in erster Linie Souvenirs und Sammelobjekte für das Kuriositätenkabinett zuhause? Oder waren es – einfach etwas teurere – Accessoires? Bei einigen Objekten sind deutliche Gebrauchsspuren zu finden, so zum Beispiel bei den Strümpfen aus dem Staatlichen Naturhistorischen Museum D-Braunschweig (MS-Inventar 47) oder beim Fragment aus dem Natural History Museum GBLondon (MS-Inventar 17). Auch die Mütze aus Monaco (MS-Inventar 4) hat abgeschabte Randkanten. Dass im 19. Jahrhundert in Sardinien Handschuhe aus Muschelseide getragen wurden, wissen wir von Basso-Arnoux 1916.

Auffällig ist, dass bis heute keine liturgischen Textilien aus oder mit Muschelseide gefunden wurden, obwohl sie in der Literatur häufig erwähnt werden. Oder geht auch diese Überlieferung auf das Missverstehen des Begriffs Byssus zurück? Mehr darüber im Kapitel Sprachliche Aspekte → Byssus und Byssus. Bock jedenfalls ist in seiner Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters von 1866 eindeutig: «Bis zu jenen Zeiten, wo der Handel mit dem Oriente dem Abendlande jenen kostbaren, glänzend weissen Byssusstoff lieferte, wurden vielfach die festtäglichen Alben der Bischöfe aus diesem theuern, ägyptischen Leinen angefertigt. Unter diesem Byssusstoffe, der hinsichtlich seiner Feinheit und Durchsichtigkeit, sowie seiner weissen Farbe mehrere Qualitäten hatte, bezeichnete man im frühen Mittelalter, wie auch im Alterthume, vornehmlich jene feine Sorte von Leinen, die man aus dem Morgenlande, namentlich aber aus Aegypten, dem alten Heimathlande des Byssus, zu beziehen pflegte.» So ist auch ein vermeintlich mit Muschelseide hergestelltes Priestergewand der Kirche Saint-Yves in Louannec (Bretagne) bestens analysiert und besteht aus Seide, Leinen und Goldfäden (de Reyer 1997).

Das Inventar umfasst sämtliche bis heute gefundenen Objekte, vom Spätmittelalter bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Wichtig: Von sämtlichen Zuschreibungen können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass es sich um Muschelseide handelt. Ausser: Die Fasern wurden analysiert und als Muschelseide bestimmt. Oder die Objekte stammen aus naturhistorischen Sammlungen. Da diese meistens Begleitobjekte einer Steckmuschel und ihrem Faserbart bildeten, kann davon ausgegangen werden, dass es sich tatsächlich um Muschelseide handelt.

In den letzten Jahren ist die Tatsache, dass es in Sardinien noch mehrere Muschelseide-Weberinnen gibt – nicht nur eine einzige, letzte – langsam auch in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Diese Weberinnen haben es verdient, dass sie aus ihrer Anonymität hervorgeholt werden. Einige dieser Arbeiten sind im Kapitel Historische Aspekte → Neuzeit → 2000-2020 zu sehen.