Handwerkliche Aspekte
„Die Fäden (der Byssus) sind frisch schmuzig weiß, werden mit den Hauptmuskel abgeschnitten, kardätscht, gesponnen (zu drei Fäden gezwirnt), und vornämlich zu Strümpfen und Handschuhen (oft auch mit etwas Seide) verarbeitet, dann gewaschen, mit Citronensaft bestrichen und zwischen Papier heiß geplättet. Die Gewebe sind fein, gelbbraun, sehr glänzend und werden daher den seidenen vorgezogen.“ (Leuchs 1835)
Fast alles, was wir heute über die Ernte der Edlen Steckmuschel, die Gewinnung des Faserbartes, die Herstellung und Verarbeitung von Muschelseide wissen, stammt aus Berichten des 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Abläufe und die verwendeten Instrumente sind im Wesentlichen ähnlich, zeigen jedoch unterschiedliche lokale Ausformungen. Besonders detailliert beschreiben dies Basso-Arnoux 1916 für Sardinien und Mastrocinque 1928 für Tarent. Da sich im Laufe des Projekts immer mehr sardische Muschelseide-Weberinnen in der Öffentlichkeit zeigen, können wir auch den aktuellen Stand des Handwerks beschreiben. Arianna Pintus zeigt es in einem kurzen Video.
Da keine antiken Textilien aus Muschelseide erhalten sind, wissen wir nicht, wie diese verarbeitet waren. Fast die Hälfte aller inventarisierten Objekte ist einfach glatt gestrickt, teils mit eingestrickten Mustern, oder gehäkelt. Ende des 18. Jahrhunderts sind Gewebe mit eingewobenen oder aufgestickten Verzierungen aus Muschelseide bezeugt – wie sie noch heute in Sardinien zu Anschauungszwecken hergestellt werden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts taucht die Verarbeitung von gereinigten Faserbärten zu pelzähnlichen Textilobjekten auf, zuerst in Tarent, später auch in Sardinien. Feste, gewobene Fragmente, bei denen Muschelseide bloss die Oberfläche bildet, stellen besondere Fragen.
Bei der Aufzeichnung der Überlieferung des Handwerks der Muschelseideverarbeitung muss berücksichtigt werden, dass es sich dabei nicht um etwas Statisches handelt. Die einzelnen Schritte und ihre Bedeutungen haben sich wohl im Laufe der Jahrhunderte je nach wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Umfeld verändert und sich den jeweiligen Bedürfnissen und Erwartungen angepasst.
Gewinnung und Reinigung des Rohmaterials
In der Blütezeit der Muschelseideproduktion, im 18. und frühen 19. Jahrhundert, wurden die Steckmuscheln mit verschiedenen Fangeisen, Zangen und Gabeln vom Boot aus ‚gefischt’, wie der Stich aus dem Buch des Schweizer Naturforschers Carl Ulysses von Salis Marschlins 1793 zeigt. Er bereiste Ende des 18. Jahrhunderts ganz Süditalien, verfasste darüber mehrere detaillierte Berichte und beschrieb auch ausführlich die Gewinnung und Verarbeitung der Muschelseide. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Tarent ein neues Fanggerät geschaffen, das eine Zange mit einer Schaufel verbindet.
Giuseppe Capecelatro, ein guter Beobachter und Kenner der Muschelseideverarbeitung aus eigener Anschauung, berichtet ausführlich über den ganzen Prozess: „Die Fischer sammeln diese Flocken, und verkaufen sie, das Pfund zu etwa 16 Carlinen. Die Käufer waschen sie sorgfältig mit gewöhnlichem Wasser, und nachher mit Seifwasser, um sie von allem Schmutz zu befreien, den sie in der Meerestiefe angenommen haben. Wenn die Flocken dann gut im Schatten getrocknet sind (denn der Sonne müssen sie ja nicht ausgesetzt werden), so behandelt man sie mit einem weiten Kamm. Was in den Zähnen dieses Kammes sitzenbleibt, nennt man Stradente (gleichsam extra Dentes); es dient zu den gröberen Arbeiten. Man wiederholt darauf das Verfahren mit einem engen Kamm, um noch mehr die groben Theile abzusondern. Ist die Wolle auf die Art gereinigt, so schneidet man sie mit einer Scheere von dem Hauptnerven der Muschel ab, bringt sie auf eine viereckige Karde, und streicht sie mit einer andern Karde in horizontaler Richtung. Die Fäden welche man so abstreift, befestigt man an einem kleinen Wocken, der mit Papier umwickelt wird, damit der Wind die Fäden nicht fortführe; und spinnt sie nun mit einer sehr feinen Spindel, wie sie die Zartheit der Wolle fordert. Den erhaltenen Faden nimmt man doppelt oder dreifach, und zwirnt ihn; so dient er dann zu den verschiednen Arbeiten, welche alle bloß mit Handeisen (ferri a mano), wie man sie in den Strumpfmanufakturen braucht, gemacht werden.“ (von der Recke 1815)
Von Salis Marschlins 1793 präzisiert noch: „Während dem sie [die Seide] noch etwas feucht ist, wird sie mit den Händen sanft auseinander gerieben und dann wieder auf die Tafel gelegt und ganz getrocknet. Nach diesem wird die Seide durch den weiten Kamm gezogen, und hernach durch den engen. Diese sind beide von Bein, und gleichen, die Grösse ausgenommen, unsern Haarkämmen. Die Seide, so wie sie nun gekämmt ist, gehört zur gemeinen und heisst Extra dente. Allein diejenige, die zu feinern Arbeiten bestimmt ist, wird noch durch die eisernen Kämme, daselbst Scarde, bey uns Kartätschen genannt, gezogen.“
Assuntina und Giuseppina, Schwestern Pes aus Sant’Antioco, Sardinien, wurden 2013 an den ersten Kongress eingeladen, der dem Thema Muschelseide (und Purpur) gewidmet war. Er fand in Lecce statt, organisiert von der Università del Salento gemeinsam mit der Universität Kopenhagen. Dort demonstrierten sie dem faszinierten Publikum den ganzen Verarbeitungsprozess, vom Reinigen der Faserbärte über das Kardieren und Spinnen bis zum Weben. Hier ihre eigenen Worte – von der Autorin frei übersetzt:
„Der rohe Faserbart (Byssus) ist mit Algen, kleinen Muscheln, Steinchen und Sand verschmutzt. Vor allem die am Strand gefundenen Faserbärte sehen aus wie Schlammkugeln und sind kaum zu erkennen. Die erste Reinigung wird im Meerwasser durchgeführt, da die Bewegung der Wellen dazu beiträgt, die Fasern leichter von den Verunreinigungen zu befreien. Der zweite Waschprozess im Süsswasser braucht viel Zeit und Geduld, bis das Salz des Meereswassers sich aufgelöst hat. Manuell werden dann die verbleibenden Verunreinigungen entfernt. Es folgt ein drittes Bad im Süsswasser. Nun werden die Faserbärte im Schatten zwischen zwei Tüchern getrocknet. Anschliessend wird der trockene Faserbart zur Trennung der Fasern leicht zwischen den Händen gerieben und auf letzte Verunreinigungen geprüft. Mit einem Kamm werden die Fasern erstmals ausgerichtet.
Der nächste Schritt ist das Kardieren, ein heikler Prozess, da die Fasern sehr fein und empfindlich sind. Mit dem Kamm mit feinen Stahlstiften wird der Faserbart gekämmt – dabei sollten die einzelnen Fasern immer noch mit dem Restfleisch des Muschelfusses verbunden bleiben. Es folgt der letzte Schritt: nochmaliges Kardieren mit einem sehr feinen Kamm. Das Spinnen erfolgt mit einer kurzen Hartholzspindel. Der gesamte Prozess erfordert 2-3 Tage Arbeit, je nach Größe des Faserbarts und – vor allem – der Länge der Fasern.“
Die natürliche Farbe des gereinigten und gekämmten Faserbarts der Pinna nobilis variiert, vermutlich je nach Standort, evtl. auch nach Alter der Muschel, von bronze- oder kupferfarben, goldgelb, braun, olivengrün bis schwarz. Als „schielenden Glanze, den kein Färber so nachfärben kann, sie noch übertreffen“ beschreibt es Chemnitz 1777. „Ein schönes gelbbraunes Gewebe, welches dem glänzenden Golde auf dem Rücken einiger Fliegen und Käfer ähnlich siehet“, nennt es Swinburne 1785.
Lässt sich Muschelseide färben? Wurde Muschelseide je gefärbt? Beide Fragen werden in der Literatur kontrovers diskutiert. Tatsache ist, dass bis heute keine gefärbten Objekte gefunden wurden. Überwiegend herrscht jedoch die Meinung, dass die Muschelseide wegen ihres natürlichen Farbtons gesucht war, woraus geschlossen werden kann, dass üblicherweise keine Färbversuche vorgenommen wurden. Wie unterschiedlich diese Farbtöne sein können, zeigt die Aufnahme im Atelier der sardischen Weberin Arianna Pintus in Tratalias. Dass ein Faserbart in sich selber verschiedene Tönungen aufweist, zeigt sehr schön ein teilweise abgeschnittener Byssus.
Der Krünitz von 1805 bestätigt dies im Beitrag über die Muschelseideverarbeitung: „… dabey es nicht erst, wie bey andern Seidenmanufacturen, kostbarer Färbereyen bedarf, weil mann diese Muschelseide ihre braune, olivengrüne, ins goldgelbe fallende glänzende unnachahmliche Farbe behalten lässet“. Dies gilt offensichtlich auch später noch, wie Heinzelmann 1852 für Sardinien bezeugt: „Der Vortheil bei diesem Zeug, Guacara genannt, ist, dass man nicht erst, wie bei der Seide, kostbare Färbereien bedarf.“
Wichtig ist, dass zwischen dem Aufhellen der Faser und dem Färben mit Farbstoffen oder Pigmenten unterschieden wird. Unbestritten ist, dass ein Bad in Zitronensaft bzw. Zitronensäure sowie das Auftragen von Zitronensaft auf die Fasern, das Garn bzw. das fertige Objekt ein Aufhellen der Fasern bzw. des Fadens oder Gewebes bewirkt: „Ist nun die Arbeit fertig, so wäscht man sie, bestreicht sie mit Limoniensaft, lässt sie im Schatten trocknen, und fährt mit einem heißen Eisen darüber hin, wobei man aber ein Blatt weisses Papier dazwischen legt, damit die Wolle nicht durch die Rauheit des Eisens verletzt werde.“ (Capecelatro, in von der Recke 1815) Andere sind überzeugt, dass sich Muschelseide färben lässt. «Ai fiocchi ed alle stoffe puo essere dato pure il colore porpora, e qualsiasi altra tinta, essi conservano sempre la lucentezza serica.» schreibt del Bene 1936 in ihrem Bericht Procedimento per le fabbricazzione di tessuti mediante la utillizzazione dei filamenti fibrosi della Pinna nobilis.
In einem weiteren Bericht von 1939 finden sich verschiedene entfärbte und gefärbte Muster von Muschelseide (Strippoli 2005); es geht daraus nicht hervor, welche Färbemittel verwendet wurden. Sie gleichen jedoch verblüffend den Färbversuchen, welche 2010 die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA in St. Gallen durchgeführt hat, mit modernen chemischen Farben.
Die Künstlerin Inge Boesken Kanold, die seit Jahrzehnten mit echtem Purpur experimentiert, versuchte 2013 am Kongress zu den Themen Muschelseide und Purpur in Lecce das Färben mit Purpur sowie das Auftragen von Purpurpigmenten auf Muschelseide. Die Resultate sind nicht überzeugend: Beim Färben wird der Farbton der Muschelseide nur leicht dunkler, das Auftragen von Pigmenten zeigt ein äusserst unbefriedigendes Resultat. Dies verwundert nicht, da auch frühere Versuche in Sant’Antioco gescheitert waren. Italo Diana versuchte, Muschelseide mit Purpur (aus Schnecken der Gattung Muricidae) oder mit pflanzlichen Stoffen zu färben. Beides schlug jedoch fehl: „Italo Diana tentò anche la tintura del bisso con la porpora ricavata dal murice ma non riuscì nell’intento; fallirono pure gli esperimenti di tintura mediante essenze vegetali.“ (Carta-Mantiglia 2004)
Dazu ein neuer Aspekt: De Castro schreibt in seiner Tesi di laurea von 1967/68 Aspetti e problemi dello sviluppo economico di Brindisi dal 1861 al 1881, dass früher – welchen Zeitraum er genau meint, ist unklar – irrtümlicherweise für die Bezeichnung industria del ‚bisso’ auch industria della ‚porpora’ verwendet wurde: «In passato l’industria del ‚bisso’ o ‚porpora’, come erroneamente si chiamava da altri, era una delle principali della Provincia». Könnte hier ein Grund für die These liegen, dass Muschelseide mit Purpur gefärbt wurde, wie Luciana Basciu 1997 in ihrem Artikel Porpora e Bisso nell’antichità vertritt? „Tornando alla porpora si può ragionevolmente ipotizzare che il termine ‚porpora di Tiro‘ si riferisse unicamente al bisso tinto con il gasteropode Thais (sin. Purpura) haemastoma, e quindi di costo giustamente folle. Il bisso, che esiste ancora, non è un ‚lino sottile‘, come riportato in tutti i testi, ma una specie di seta ottenuta trattando i filamenti con cui i molluschi lamellibranchi delle specie Pinna nobilis e pinna regalis si ancorano al fondo.“ Wie wir bereits im Kapitel Sprachliche Aspekte → Byssus und Byssus erklärt haben, steht der Begriff bisso/Byssus in der Bibel nicht für Muschelseide, sondern für feinstes Leinen. Beim biblischen Begriffspaar ‚Byssus und Purpur‘ handelt es sich also um mit Purpur gefärbtes Leinen. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, weshalb die goldene Muschelseide mit kostbarem Purpur hätte gefärbt werden sollen, wenn das Resultat bloss ein leicht dunklerer Ton war.
Weiterverarbeitung der Muschelseide
Das älteste Fragment, das als Muschelseide identifiziert wurde, stammte aus dem 4. Jahrhundert nach Christus. Vermutlich war es gewoben. Leider ging es in den Wirren des 2. Weltkriegs verloren. Ob aus Muschelseide je ganze Kleider gewoben wurden, wie oft in der Literatur erwähnt, wissen wir nicht – eher ist anzunehmen, dass auch hier der antike Begriff Byssus mit Muschelseide verwechselt wurde. Das älteste erhaltene Objekt stammt aus dem 14. Jahrhundert: eine ganz einfache, glatt rechts gestrickte Mütze.
Nein, schleierartige und durchsichtige Gewebe aus Muschelseide habe ich bis heute nirgends gefunden. Mit linea nebula – Nebelleinen, oder ventus textilis – gewebter Wind, wurden gazeähnliche, feinste Gewebe aus Leinen, Seide oder Wolle bezeichnet (siehe dazu Sprachliche Aspekte → Byssus und Byssus. Das oft in Zusammenhang mit Muschelseide erwähnte Tarantinidion, das durchsichtige Gewand der Kurtisanen aus dem antiken Taras, welches „das Auge der männlichen Jugend auf sich [zu] ziehen und deren Sinnlichkeit [zu] entfesseln“ sollte, wurde wohl aus der feinsten apulischen Schafwolle hergestellt. Diese konnte so fein gesponnen werden, dass daraus ein durchsichtiges Gewebe entstand: „Wool from the latter was so fine that it could be spun into diaphanous material.“ (Sebesta 1994, D’Ippolito 2004)
Auf jeden Fall sind alle bis heute eindeutig als Muschelseide identifizierten Objekte weder durchsichtig noch schleierähnlich. Im Inventar kann man sich davon überzeugen. Das dürfte auch beim Volto Santo von Manoppello, der als Antlitz Christi verehrt wird, der Fall sein. Das Stoffbild hat, seit es als Gewebe aus bisso – Muschelseide – ‚identifiziert‘ wurde, weltweite Berühmtheit erlangt. Doch auch da handelt es sich mit grösster Wahrscheinlichkeit um Leinenbyssus (für eine ausführliche Analyse siehe Maeder 2017a).
Stricken
Das älteste noch existierende Objekt aus Muschelseide, eine Mütze aus dem 14. Jahrhundert, ist gestrickt; ebenso das grösste Objekt, ein über 400 Gramm schwerer Schal. Die häufigsten inventarisierten Objekte sind gestrickte Handschuhe.
In Tarent wurde die Muschelseide um 1800 fast nur gestrickt. „Le donne lavorano a maglia calze, berette, guanti ed altre manifatture ricercatissime in oltremonti.“ (de Simone 1767) Sämtliche Objekte, die Erzbischof Capecelatro zwischen 1780 und 1789 verschenkte oder zwischen 1802 und 1805 in Tarent bestellte (auch zum Verschenken), sind gestrickt: Damen- und Herrenhandschuhe zu Dutzenden, Strümpfe, Westen, Mützen.
„Viele vermischen sie mit ein wenig Seide, damit sie mehr Festigkeit bekomme, wodurch sie aber die Gelindigkeit und Wärme verliert.“ (Riedesel 1771) Davon spricht auch von Salis Marschlins 1793: „Alsdann wird sie mit der Spindel in der Hand gesponnen, zwey oder drey Fäden zusammen verbunden, immer ein Faden rechte Seide darunter gemischt, und alsdann mit den Nadeln nicht nur Handschuhe, Strümpfe und Westen, sondern ganze Kleider gestrickt“. Könnte es dabei auch um den sparsamen Umgang mit der kostbaren Muschelseide gehen? Diese Objekte waren sicher weniger teuer als diejenigen aus reiner Muschelseide. Es muss auch mehr davon gegeben haben – und wurden deshalb nicht als aufbewahrungswürdig betrachtet? Auf jeden Fall gibt es nur ganz wenige gemischte Textilien – fast alle inventarisierten Objekte sind aus reiner Muschelseide gestrickt.
Viele der gestrickten Objekte sind überaus fein. Es geht auch anders: Ein ganz besonderes Objekt ist erst im Herbst 2019 an die Öffentlichkeit gelangt: ein Damenhut in Form eines Turbans, sehr grob und locker gestrickt, 83 Gramm schwer, aus Süditalien, vermutlich aus den 1920er oder 1930er Jahren. Er wurde in einem auf Textilien spezialisierten Auktionshaus in New York versteigert.
Weben
„Jetzt wird die gesponnene Lana Penna fast allgemein gestrickt“, schreibt Jolowicz 1861. Und fügt an: „Es scheint aber nicht, dass die Alten dieses Verfahren kannten; die Kleider, welche sie daraus gefertigt haben, müssen gewebt gewesen sein.“ Gewebe aus Muschelseide, darüber finden wir in der Literatur viele Berichte. Erhalten ist wenig davon.
Aus Apulien wird 1853 ein quadratischer Wandteppich an der Esposizione di Napoli gezeigt, hergestellt im Waisenhaus Santa Filomena in Lecce: „…tutto lanapinna con dei piccoli trasparenti de seta agli angoli, e nel mezzo, dentro ghirlanda di fiori, il nome in cifra dell’Augusto nostro Re“ (Maestri 1858). Zum Goldenen Priester-Jubiläum schenkte Tarent Papst Leo XIII im Jahr 1887 einen Wandteppich, der lange nur aus Beschreibungen bekannt war. Der Eingang dieses Geschenkes wird vom Vatikan zwar bestätigt, sein weiterer Verbleib sei jedoch nicht mehr zu eruieren. Nun ist er wieder aufgetaucht – fast vollständig, nur das Wappen in der Mitte wurde irgendwann entfernt. Ein Glücksfall, und eine Geschichte, die noch zu erforschen bleibt.
Ein seltenes Einzelstück ist ein grosser, gewobener Schal aus reiner Muschelseide aus dem Atelier Italo Diana, Sant’Antioco, mit eingewebten Mustern in Form von Templer- oder Tatzenkreuzen. Es muss mehr davon geben, denn Margherita Raspa, eine ehemalige Schülerin von Diana, erinnert sich: „Ich habe eine Decke aus Muschelseide gewoben, die in Venedig den ersten Preis gewann: Sie war ganz aus Muschelseide, die ich selber gesponnen und gewoben hatte.“ (Flore 2004) „Si fecero anche stoffe confezionate esclusivamente col bisso, ma con una tecnica tutta particolare, a disegni leggerissimi, sempre ispirati ai motivi ornamentali caratteristici del tessuto d’arte sarda“, schreibt Zanetti 1964, und zwar auf den nicht nur in Sardinien üblichen Webstühlen: „La tessitura … si è sempre fatta coi soliti telai artigiani, analoghi a quelli tuttora in uso anche nei villagi del continente.“
Im Krünitz von 1805 wird von schönen, gewobenen Stoffen berichtet, die an Ausstellungen bewundert werden. So beispielsweise in Paris 1801 „drap de pinne marine, gilets en vigogne et pinne-marine“ (Holcroft 1804), im Jahr 1806 „tissus fabriqués avec la laine de ce coquillage“, und 1855 „drap bleu Marie-Louise, mélangé de laine d’Allemagne et de pinne marine“. Auch an einer Warenausstellung in Aachen wurde 1813 Muschelseidetuch gezeigt: „par kurze Stückcher blau. Grün mit Pinne Marine melirt“ (Lenzmann an Scheibler, Brief vom 14.8.1813). De Simone spricht 1867 ebenfalls von gewobenem Tuch, das aus einem mit Muschelseide gemischten Garn hergestellt wird: „Si mescola alla seta nella filatura, quando vuolsi lavorare al telaio per drappo.“ Bei all diesen mit Vikunja- oder anderer Wolle gemischten Geweben stellt sich die Frage, ob es sich dabei wirklich um Muschelseide handelt. Zur gleichen Zeit wird nämlich auch von Imitationen gesprochen: „In den niederländischen Fabriken, zu Franchement, Eupen, Montjoie, Verviers, Ensival, wurde früher auch unter diesem Namen ein feines, 9/4 Brabanter Elle breites, olivenfarbiges, in Gold spielendes Tuch verfertigt, welches die Farbe der Muschelseide nachahmen sollte, und wurde zu Ueberröcken getragen.“ Und: „Einige Zeit lang verfertigte man in den französischen Seidenmanufakturen einen Zeug als Nachahmung der schönen, asiatischen Shawls aus dieser Muschelseide, ½ pariser Stab breit, wovon die Elle mit 500 Frkn., und ein Shawl von 2 Stab im Quadrat gross mit 2000 Frkn. bezahlt wurde.“ (Wieck 1851)
Etwas näher an die Realität kommen wir mit der Analyse eines kleinen, gewobenen Fragments aus dem Natural History Museum in London, a small fragment of twill-woven fabric with felt backing. Es handelt sich dabei um ein sehr robustes, 1 ½ mm dickes double face-Gewebe aus Maulbeerseide und einer sehr feinen Wolle, die nicht näher identifiziert werden konnte; feinste goldene Muschelseidefasern bilden die Oberfläche (Maeder et al. 2019). Der Dictionnaire général des tissus anciens et modernes von 1857 beschreibt es perfekt : „L’échantillon … dans lequel la soie de pinne-marine ne fait que le poil, c’est à-dire l’endroit du tissu, a l’aspect d’une peau de bête, d’une grande finesse, telle, par exemple, que le poil de castor.“
Ein sehr ähnliches Fragment haben wir in einem Tuchmusterbuch von 1800 in der alten Textilstadt Monschau gefunden. Dort besteht die Rückseite aus feinster Merinowolle (Maeder 2013, Sicken 2013). Auch Kaschmir- und Vikunja-Wolle wurde mit Muschelseide gemischt: „Draps (fab.). Malhout (?), casimirs, double-broche, vigogne et pinne marine“ (de La Tynna 1820).
Sticken und Einweben
In Frankreich wurde bereits im späteren 18. Jahrhundert Muschelseide in Seide oder Leinen eingewoben oder eingestickt: „…und verfertigte vor mehreren Jahren wenigstens in Paris weisse seidene Westen, worin von jener braunen Muschelseide kleine Figuren gewirkt sind“ (Krünitz 1805). In Tarent wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit Muschelseide bestickte Wandteppiche hergestellt und an verschiedenen Industrie- und Handelsausstellungen gezeigt. Einige aus dem 20. Jahrhundert sind in Campi 2004 und Strippoli 2004 zu sehen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts webt Italo Diana in Sant’Antioco Wandteppiche aus Seide oder Baumwolle, mit Mustern, inspiriert von byzantinischen Motiven mit stilisierten Tieren, wie sie dem Geschmack und der Tradition in Sardinien entsprechen: „Si fecero lavori vari, alcuni dei quali su trama d’altra fibra (cotone, seta etc.); arazzi su fondo di seta con ricami in bisso, eseguiti a telaio a grande rilievo, ed a motivi bizantini con animali stilizzati, secondo il gusto e la tradizione artistica dominante nell’Isola.“ (Zanetti 1964).
Neben Wandteppichen sind auch Kinderkleider erhalten. Oft wurde die Webart a pibiones verwendet, ein noppenartiger Schlingeneintrag aus Muschelseide, wie er auch bei den sardischen Wollteppichen bekannt ist. Diese Webtechnik ist auch heute noch sehr verbreitet in Sardinien. „Il disegno decorativo, costituito da grani in rilievo, viene creato da un filo di trama supplementare che, fatto passare attraverso i fili dell’ordito, viene ripreso con le mani nei punti in cui si vuole ottenere il disegno e quindi avvolto su un ferro metallico (busa è infatti il ferro da calza), che ne consente l’innalzamento rispetto alla superficie del tessuto.“ (Carta Mantiglia 1997)
Die Schwestern Pes aus Sant’Antioco verwenden neben der Webart a pibiones noch zwei weitere: punt’e agu, und mostr‘ e‘ litzus, der mit sehr fein gesponnenem Muschelseidegarn ausgeführt wird. Arianna Pintus webt Muschelseide in selbstgezogenes und verarbeitetes Leinen in ihrem Atelier in Tratalias. Mehr über diese Weberinnen aus Sant‘Antioco im Kapitel Historische Aspekte → Neuzeit → 2000-2020.
Pelz – a pelliccia
Mastrocinque beschreibt 1928 den Herstellungsprozess, bei welcher der goldene Glanz der Muschelseide ganz besonders schön zur Geltung kommt. Dabei werden ganze gereinigte und gekämmte Faserbärte, bei denen die Fussreste nicht vollständig abgeschnitten wurden, von unten nach oben auf ein Untergewebe genäht, eng nebeneinander und überlappend. Ein Muff a pellicia aus dem Waisenhaus Santa Filomena in Lecce, wird 1853 an der Esposizione di Napoli mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.
Gereinigte, gekämmte Faserbärte wurden auch zu Passementerien, Kordelabschlüssen und Schmuckstücken verarbeitet, wie das Inventar zeigt.