Projekt Muschelseide

Die Muschelseide hat alles, was fasziniert und die Phantasie anregt: Sie glänzt im Sonnenlicht wie Gold, kommt aus dem Meer, ist selten und kostbar – und ihre Geschichte reicht bis in die Antike. Ein Thema für Mythen und Legenden. Jede Zeit pflegt ihre eigenen und schafft neue. Was war, was ist die Muschelseide wirklich?

Muschelseide ist der gereinigte, gekämmte und für textile Arbeiten verwendete Faserbart der Edlen Steckmuschel (Pinna nobilis L.). In der Textilgeschichte bildet die Muschelseide nur ein winziges Kapitel. Bis vor kurzem kaum erforscht, droht das Wissen um Gewinnung und Verarbeitung der Muschelseide als Kulturgut auszusterben. Sardinien und Tarent in Apulien waren noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts Zentren der Muschelseideverarbeitung. Sie sind auch heute wieder von Bedeutung, wo es darum geht, das Wissen um das alte Handwerk an neue Generationen weiterzugeben – auch wenn daraus, da die Muschel hoch gefährdet ist und unter Schutz steht, kaum mehr ein Erwerbszweig entstehen wird.

Muschelseide unter dem Mikroskop, im Gegenlicht (Aufnahme P. Stähli)

Geschichte

Das Projekt Muschelseide wurde von der Autorin dieser Homepage, Felicitas Maeder, initiiert. Wie kam es dazu? Angefangen hat alles im Sommer 1997 mit dem Suchen nach einem spannenden Thema, das Klein und Gross an einem Familiensonntag im Naturhistorischen Museum Basel zum Thema „Muscheln und Schnecken“ begeistern könnte. Ein Vorschlag der Museumspädagoginnen: Muschelseide! Klingt geheimnisvoll, assoziiert Meer und kostbaren Stoff, eine seltsame Kombination. Genau das richtige für mich, neugierig von Geburt aus, aufgewachsen in der Textilstadt St. Gallen, genetisch geprägt (mein Grossvater war Textilkaufmann), zur Schule gegangen – buchstäblich – im Schatten der Klostertürme und der weltberühmten Stiftsbibliothek. So wurde aus mir ein Bücherwurm, eine Archiv- und Museumsliebhaberin mit nie gestillter Faszination für’s Meer und für alles, was damit zu tun hat.

Von Theo Angelopoulos, dem grossen griechischen Filmemacher, stammt der Satz: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass ein Thema sich auf wundersame Weise einen Menschen sucht und nicht der Mensch das Thema. Man wacht eines Morgens auf, und eine Idee hat sich im Kopf festgesetzt, die wie ein beharrlicher Vogel darin herumschwirrt. Das wird zur fixen Idee, und der Vogel kommt immer wieder, bis sich daraus eine richtige Geschichte entwickelt hat.“

Genau so war es. Die Muschelseide hatte mich gefunden, sie wurde zur fixen Idee und die Geschichte entwickelte sich, langsam, beharrlich, mit Rückschlägen und Umwegen, aber auch mit vielen, sehr vielen glücklichen Fügungen.

Biologie- und Textilfachbücher, Wörterbücher und Enzyklopädien waren zu diesem Zeitpunkt keine grosse Hilfe – zu widersprüchlich die Aussagen. Gab es sie überhaupt, die Muschelseide? Oder war es eine schöne Legende? Dass sie tatsächlich existiert, bewiesen die Objekte, die ich bereits im Winter 1997/98 im Naturhistorischen Museum Basel in einer Vitrine ausstellen konnte: Ein Paar golden schimmernde Handschuhe, fein gestrickt aus reiner Muschelseide aus dem Museum für Naturkunde Berlin und ein einzelner langer Handschuh aus der Zoologischen Sammlung der Universität Rostock – zusammen mit einem Webstück aus Muschelseide und Werkzeug für deren Verarbeitung aus dem Museum der Kulturen in Basel.

1998 wurde ich als ehrenamtliche Mitarbeiterin am Naturhistorischen Museum Basel aufgenommen; langsam konkretisierte sich das Projekt Muschelseide mit folgenden drei Zielen:

  1. Erstellen eines Inventars aller noch existierenden Objekte,
  2. Erforschen der Geschichte und des Handwerks,
  3. Dokumentation der noch vorhandenen Zeugnisse des praktisch ausgestorbenen Handwerks.

Erste Erkundigungen in textilhistorischen Sammlungen und Volkskundemuseen quer durch Europa verliefen negativ: keine Objekte, kaum schriftliche Quellen. Wohl hatte Prof. Gabriel Vial, ehemaliger Direktor des Musée des Tissus in Lyon 1983 im Bulletin du Centre International d’Etude des Textiles Anciens einen Artikel „A propos d’une soierie façonnée, dite de ‚byssus’“ publiziert. Das untersuchte Material, ein Fragment eines liturgischen Gewandes aus dem 8. Jahrhundert, erwies sich jedoch bei näherer Prüfung als ‚gewöhnliche’ Seide. Ein Satz zum Begriff Byssus jedoch machte mich stutzig: „La confusion était totale entre le lin, la soie, le coton et ce que l’on appelle aujourd’hui du mot Byssus.“ (Vial, 1983)

Es soll einmal einen chinesischen Weisen gegeben haben, „der die Qualität unserer Welt davon abhängig machte, ob wir für die richtigen Dinge die richtigen Wörter finden. Dieser Weise war nämlich der Ansicht, dass das Unglück auf Erden vor allem daher stammt, dass wir für gegebene Realitäten die falschen Wörter benützen.“ (NZZ 4.3.2002) Das war also der springende Punkt: das richtige Wort für die gegebene Realität finden! Sprachen haben mich schon immer fasziniert – meine Faszination für die Muschelseide vertiefte das nur. Mehr darüber im Kapitel Sprachliche Aspekte.

Im Jahr 2000 bekam ich die Möglichkeit, nebenberuflich eine Weiterbildung in Kulturmanagement zu machen. Als Abschlussarbeit wählte ich, zusammen mit Elisabeth Wiederkehr, das Konzept für eine Muschelseide-Ausstellung. Es stiess im Naturhistorischen Museum auf Interesse und führte schliesslich 2004 zur weltweit ersten thematischen Ausstellung: Muschelseide – Goldene vom Fäden vom Meeresgrund / Bisso Marino – fili d’oro dal fondo del mare – eine Zusammenarbeit zwischen dem Naturhistorischen Museum und dem Museum der Kulturen Basel. Der Katalog der Ausstellung ist die erste illustrierte Monographie und – wie alle Texte der Ausstellung – komplett zweisprachig, in Deutsch und Italienisch geschrieben.

In Zusammenarbeit mit Marcel Halbeisen von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA St. Gallen, einer Institution der ETH Zürich, konnte 2000 ein einfaches Analyseverfahren zur Identifikation der Muschelseidefaser entwickelt werden.

Mit dem Internet ergeben sich völlig neue Möglichkeiten der Recherche, da viele Bücher aus der für das Thema wichtigen Periode des 16. bis 19. Jahrhunderts erstmals und in vielen Sprachen zugänglich sind. In einem täglich wachsenden Bücherbestand kann nun auch nach Stichworten und Wortverbindungen gesucht werden. Daraus ergibt sich ein eigentliches work in progress. Eine Projekt-Homepage mit all ihren Vernetzungsmöglichkeiten ist dafür das sinnvollste Medium. Diese ging dann dreisprachig 2010 online, in Deutsch, Italienisch und Englisch. 2019 habe ich sie vollständig überarbeitet und alle neuen Erkenntnisse und Objekte – heute sind es über 80! – eingeschlossen.

Im Jahr 2012 verlieh mir die Philosophisch-Historische Fakultät der Universität Basel den Doktortitel honoris causa für meine Arbeit.

Wie seltsam einige Wege in der langen Geschichte der Muschelseide sind, habe ich beschrieben. Wie kommt es, dass ausgerechnet ein US-Amerikaner als erster die Idee hat, eine kritische Geschichte der Muschelseide zu schreiben?

Daniel McKinley, emeritierter Professor für Biologie der University of Albany, N.Y. USA, publizierte 1998 in einer kanadischen Textilzeitschrift eine umfangreiche Studie über die Geschichte der Muschelseide (McKinley, 1998). Erst drei Jahre später, Dank einer Information der Bibliothekarin der Abegg-Stiftung Riggisberg, bekam ich von McKinleys Buch Kenntnis. Ich nahm sofort mit ihm Kontakt auf. Es stellte sich heraus, dass mein Brief die erste Reaktion überhaupt auf sein Buch war. Bis zu seinem Tod im Frühling 2010 standen wir in regem Austausch. Er war mir ein unersetzlicher Gesprächspartner und aufmerksamer, kritischer Begleiter geworden. Nach seinem Tod 2010 gaben mir McKinleys Söhne die Erlaubnis, sein Buch, das äusserst schwierig erhältlich ist, als pdf-Datei in die Homepage aufzunehmen.

Zwischen 1999 und 2017 führten mich kürzere und längere Forschungsaufenthalte nach Sardinien, Tarent und Lecce, Neapel und Pompeji, Venedig, Genua, Turin, Mailand und Rom, nach London, Cambridge, Oxford und Edinburgh, nach Paris, Saint-Denis, Lyon und Rouen, nach Zagreb und Monaco, nach Berlin, München, Köln und Monschau, nach Moskau und Sankt Petersburg, nach Chicago und Washington, oft vor oder nach einer Tagung oder einem Kongress.

An mehreren Textil- und Archäologiekongressen und öffentlichen Veranstaltungen im In- und Ausland konnte das Projekt Muschelseide vorgestellt und damit die Aufmerksamkeit von Fachleuten aus volkskundlichen und textilen Museen, Sammlungen und Institutionen geweckt werden; daraus entstanden Publikationen in Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch. Mehr dazu im Kapitel Bibliographie → Projektpublikationen.

Auch im Hinblick auf ein grösseres Publikum ist in den vergangenen Jahren einiges geschehen. An Textilien interessierte Vereine und Gruppierungen luden mich zu Vorträgen ein, und populärwissenschaftliche und andere Zeitungen und Zeitschriften – auch in Italien – interviewten mich „in Sachen Muschelseide“.

Die englische Marinebiologin Helen Scales recherchierte in Sant’Antioco die Herstellung und Verarbeitung von Muschelseide und publizierte ihre Ergebnisse 1915 im Kapitel Spinning Shell Stories in ihrem Buch Spirals in Time: The Secret Life and Curious Afterlife of Seashells (Bloomsbury 2015, 145-171). Der grosse Erfolg des Buches führte zu einer italienischen Übersetzung: Spirali nel tempo – le conchiglie e noi mit dem Kapitel VI über Muschelseide: Le conchiglie che filano (Beit Scienza 2017, 127-152).

Ein sehr schöner illustrierter Artikel über die Muschelseideweberinnen Assuntina und Giuseppina Pes und Arianna Pintus erschien 2018 im edlen Journal der Uhrenfirma PATEK PHILIPPE – in den Sprachen Deutsch (pdf), Italienisch (pdf), Französisch (pdf), Spanisch (pdf), Englisch (pdf), Japanisch (pdf), Mandarin (pdf) und einfachem Chinesisch (pdf).

Auch den englischen Schriftsteller Edward Posnett führte die Faszination für die Muschelseide nach Sardinien. In seinem 2019 erschienenen Buch Harvest – The Hidden Histories of Seven Natural Objects zeigt ein Kapitel seine Irritation über die sich widersprechenden Erzählungen über die Muschelseide in Sant’Antioco. Resultat ist eine hervorragende Analyse der Situation (Kapitel Sea Silk, The Bodley Head, London 2019, 123-170). Auch dieses überaus erfolgreiche Buch wird übersetzt und erscheint 2020 in Deutsch unter dem Titel Die Kunst der Ernte: Siebe kleine Naturwunder und ihre Geschichten (Edward Posnett and Sabine Hübner, Hanser 2020).

1999 erschien in der deutschen Zeitschrift MARE (13, 1999) mein erster Artikel über die Muschelseide. 20 Jahre später, 2019, berichtete „Marina – das nautische Magazin der Schweiz“ über das Projekt, in einer deutschen (pdf) und einer französischen (pdf) Fassung (marina.ch 127, 2019).

Dank

«Das Geflecht menschlicher Tätigkeiten gleicht dem Kosmos, wie er ist es unermesslich und unergründlich. Der Versuch, die verschwundene Arbeit ans Tageslicht zu fördern, ist gewagt und heisst nach den Sternen greifen.» (Palla 1998)

Nach den Sternen greifen – so schien es mir oft seit Beginn des Projekts Muschelseide. Ich war aber nicht allein. Unendlich viele haben sich in den vergangenen Jahren von meiner Begeisterung für die Muschelseide anstecken lassen, mich begleitet, gefördert, bestärkt und mir immer wieder Mut gemacht, Gegebenes zu hinterfragen, Neues zu wagen, Schwierigkeiten zu überwinden: interessierte Fachleute und Laien, Vertreter von Bibliotheken, Archiven, Museen, Universitäten, Verwaltungen, Schulen. Ohne diese Hilfe und Anteilnahme und ohne das Interesse, das ich immer wieder spürte, wäre das ‚Projekt Muschelseide’ nicht so weit gediehen. Ihnen allen danke ich von ganzem Herzen. Ich hoffe, dass ich mit dieser Homepage etwas davon zurückgeben kann.

Ich danke dem Team des Naturhistorischen Museums Basel, das mich als ehrenamtliche Mitarbeiterin aufgenommen, Ausstellung und Katalog ermöglicht hat und mich und das Projekt immer wieder in vielfältiger Art unterstützt.

Und zuletzt ein herzliches Dankeschön meinen beiden Familien und allen meinen Freunden für’s Mittragen in all diesen Jahren und für die Geduld, wenn fast jedes unserer vielen Gespräche irgendwann wieder bei der Muschelseide endete…

Zwei beste Freunde musste ich in den letzten Jahren gehen lassen: 2015 Chris O., ohne den mich die Muschelseide nicht gefunden hätte, und 2019 Ursula B., ohne die ich viele schwierige Momente nicht überwunden hätte, die an mich glaubte, mich förderte und forderte und mich in jeder Beziehung unterstützte. Beide sind auf jeder Seite dieser Homepage mitgedacht. Ich verdanke ihnen unendlich viel.

Zukunft

«Alles stirbt zweimal. Zuerst seinen eigenen Tod, unabänderlich und konkret. Später dann jenen anderen im Bewusstsein der Überlebenden.» Das Wissen über die Muschelseide ist unzählige Male gestorben, und mit ihr ihre Geschichte – das zeigen auch die vielen Irrtümer, die immer wieder weiterkolportiert wurden und noch immer werden. Dass die „vera storia del bisso marino“, die faszinierende Realität der Muschelseide in Zukunft nicht wieder vergessen geht, dafür steht das Projekt Muschelseide.

Das heisst konkret: Die Geschichte der gefundenen Objekte soll weiter vertieft werden. Was ist die Geschichte der heutigen Objektinhaber bzw. deren Institution? Wie kam das Objekt in die Sammlung? Wer war ihr Vorbesitzer? Wie kam es in deren Hände? Wo wurde es produziert? Ausserdem möchte ich die eingestrickten Muster auf Handschuhen und Strümpfen vergleichen. Vielleicht lassen sich so Parallelen ziehen und mehr über Herkunft und Herstellungsprozess der Objekte sagen.

Über den wissenschaftlichen Bereich hinaus soll das Wissen über die Muschelseide verbreitet und Initiativen und Bemühungen unterstützt werden, vor allem auch in Sardinien. „Un maestro non geloso delle sue conoscenze ma generoso e attento che tutte le sue allieve imparassero i trucchi della tessitura da lui riscoperti, tanto da farle innamorare del proprio lavoro, affinché venisse trasmesso ad altri.” (Claudio Moica über Italo Diana, 18.9.14)