Antike und Spätantike

Die Edle Steckmuschel liefert bis zu einem Kilo Muschelfleisch; sie war in erster Linie Nahrung. „Die Steckmuscheln sind wassertreibend, nahrhaft, nicht leicht verdaulich …“, schreibt der Grieche Athenaios im 2. Jahrhundert vor Christus. Reste von Pinna-Schalen aus der Bronzezeit wurden an fast allen Küsten des Mittelmeers gefunden. Auch die leuchtend rote Perlmuttschicht im Innern der Schale wurde verwertet.

Das Römische Reich zur Zeit seiner grössten Ausdehnung im 3. Jahrhundert nach Christus

Irgendwann, irgendwo kam jemand auf die Idee, auch die Haftfäden der Steckmuschel zu verwenden. Gereinigt, gekämmt und versponnen ergab das ein neues Textilmaterial, das mit seinem natürlichen goldenen Glanz etwas ganz Besonderes war. Wo war das? Und wann? In hethitischen Texten findet man Hinweise auf eine braun-grüne Meerwolle aus der Ägäis – Muschelseide? (Heinhold-Krahmer 2007) Waren es die Phönizier, die 1000 Jahre vor Christus an der östlichen Mittelmeerküste lebten und ein anderes Meeresprodukt, den echten Purpur, den kostbarsten Farbstoff der Antike kannten? Sicher ist eines: Was in der Bibel mit Byssus bezeichnet wurde, ist nicht Muschelseide – es ist feines Leinen. Und auch die Pharaonen wurden nach ihrem Tod nicht in Muschelseide gewickelt – es war feinstes Leinen. Erklärungen zu dieser komplizierten Geschichte finden sich im Kapitel Sprachliche Aspekte → Byssus und Byssus.

Tertullian beschreibt als erster die Verwendung von Muschelseide. Quelle: https://archive.org

Die ersten schriftlichen Zeugnisse für die textile Verwendung von Muschelseide stammen aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. In Alciphrons Briefen finden wir den griechischen Begriff für Meerwolle (tὰ ἐκ τῆς θαλάσσης ἔρια, thalassis eria), lateinisch marinas lanas. Tertullian, ein zum Christentum konvertierter Jurist aus Karthago, erwähnt Muschelseide in seiner Schrift De Pallio:
„Nicht war es genug, die Stoffe der Tunika zu kämmen und zu pflanzen; nein, man fand es auch nötig, den Kleiderstoff zu fischen, denn auch aus dem Meere holt man Vliesse, wo Muscheln von beträchtlicher Grösse mit Büscheln versehen sind“ (Nec fuit satis tunicam pangere et serere, ni etiam piscari vestitum contigisset: nam et de mari vellera, quo mucosae lanusitatis plautiores conchae comant). 

Dies könnte darauf hinweisen, dass neben Wolle und Leinen, den damals üblichen Textilmaterialien, Muschelseide zu Bekleidungszwecken zumindest bekannt war– und hier in anklagendem Sinn als Luxus bezeichnet wird.

In hebräischen Gesetzestexten (um 210 n.Chr.) wird eine ‚grüne oder gelbe Substanz aus dem Wasser‘ erwähnt. In Aramäisch, der damaligen Alltagssprache in Palästina, wird dies mit ‚Meerleinen‘ übersetzt. Auch ‚Wolle einer Meeresmuschel‘ wird erwähnt, und mehrmals ‚Wolle aus dem Meer‘ (Makbili 2013).

Unerwartet ist die Erwähnung von Muschelseide in chinesischen Quellen, z.B. Hou Hanshu und Weilüe aus dem 1. bis 3. Jahrhundert. Ein kurzes Video informiert über diese Zeit (Text von Hill 2009). Aus Daqin, dem römischen Reich, werden kostbare Textilien erwähnt: „They also have a fine cloth which some people say is made from the down of ‘water sheep’“ (chinesisch shuiyang 水羊), Daunen vom Wasserschaf. Eine Neuübersetzung des Buches zeigt, dass es sich dabei nicht um Wildseide, sondern um Muschelseide handelte (Bretschneider 1871, Hirth 1885, Pelliot 1959, Laufer 1915, Ecsedy 1974, McKinley 1998, Boulnois 2001, Hill 2009). In weiteren chinesischen Quellen finden wir cloth from Folin (haixi) und stuff from the western sea (hai si pu). Auch mermaid silk, Meerjungfrau-Seide oder – wie Hill 2009 schreibt – silk material made by the nymphs of the southern seas (Pelliot 1959, McKinley 1998, Hill 2009).

Ausschnitt aus Diokletians Preisedikt, 301 nach Christus

Wohl der wichtigste Beweis für die Existenz von Muschelseide in der Antike ist Diokletians Preisedikt aus dem Jahr 301, eine ausgezeichnete Quelle für alle an der römischen Alltagsgeschichte Interessierten. Inflation und Teuerung waren der Grund, dass der römische Kaiser Diokletian Maximalpreise für alle erdenklichen Waren und Dienstleistungen verordnete, auf Stein gemeisselt in Latein und Griechisch, aufgestellt auf allen wichtigen Marktplätzen des Reichs. Teile davon sind erhalten, teilweise verwendet als Türstürze; neue Fragmente werden auch heute noch entdeckt.

Lange wurde gerätselt über den lateinischen Begriff lana marina, griechisch eraias thalassias (ἔραίας θαλασσίας). Muschelseide wurde in Erwähnung gezogen, dann wieder verworfen. Nun sind sich Textilexperten einig: Im Kapitel 25 über die Wolle ist sie erwähnt, die Meerwolle, teurer als die feinste Wolle. Gemäss dem Preisedikt kostete eine Tunika aus Muschelseide die enorme Summe von 48‘000 Denar – die billigste Tunika war für 200 Denar zu haben. Übersetzen wir: ein Wintermantel für 200 Euro oder einer für 48‘000 Euro? Damit bekommt auch die Aussage des persischen Reisenden Nasir Khusraw aus dem 11. Jahrhundert grössere Glaubwürdigkeit: „I heard that the king of Fars once sent twenty thousend dinars to Tinnis to buy one suit of clothing of their special material. (His agents) stayed there for several years but were unsuccessful in obtaining any“ (Caputo & Goodchild 1955, Lauffer 1971, Giacchero 1974, Reynolds 1981, Hunsberger 2000, Wild 2001, 2015, Harlow 2012).

Der Heilige Basilius der Grosse (331-379), Bischof von Cäsarea in Kappadokien, spricht in einem Predigttext mit Bewunderung vom goldenen Vlies der Steckmuschel, die noch kein Färber nachgemacht habe: „Unde pinnae auream lanam nutriunt, quam insectorum nullus hactenus est imitatus“. Dieses Zitat dürfte der Ursprung sein für die Legende, welche im Goldenen Vlies des Jason aus der griechischen Mythologie Muschelseide zu erkennen meint (Zanetti 1964, Abbott 1972). Chris Cole hat dazu 2005 einen ausgezeichneten Überblick publiziert.

Materielle Funde aus dieser Zeit gibt es nicht. Leider hat sich der vermeintliche Fund von Muschelseidefasern in Ausgrabungen von Pompeij nicht bestätigt – es handelt sich dabei erwiesenermassen um Fasern eines Badeschwamms (Maeder & Médard 2018).

Der byzantinische Historiker Procopius beschreibt kostbare Kleider aus Muschelseide in Byzanz des 6. Jahrhunderts. Quelle: wikidata.org

Konstantinopel, das Zentrum Ostroms, war bekannt für seinen verschwenderischen Luxus, nicht zuletzt in der Kleidung. Der Historiker Procopius beschreibt um das Jahr 550 in seinem Buch De Aedificiis die Insignien, welche fünf armenische Satrapen (Statthalter) von Kaiser Justinian I. als Machtzeichen erhielten. Dazu gehörte ein „aus Wolle gemachter Mantel, nicht wie die, die von den Schafen herkommt, sondern aus dem Meer gesammelt. Man pflegt die Lebewesen ‚Pinnoi’ zu nennen, aus denen diese Wolle herauswächst“. Auch der britische Historiker Edward Gibbon erwähnt die Muschelseide 1781 im 4. Band seines Buches über den Untergang des römischen Reichs: „They where still more intimately acquainted with a shell-fish of the Mediterranean, surnamed the silk-worm of the sea: the fine wool or hair by which the mother-of-pearl affixes itself to the rock is now manufactured for curiosity rather than use; and a robe obtained from the same singular materials was the gift of the Roman emperor to the satraps of Armenia.“

Alle diese Beispiele zeigen, dass es weder im Lateinischen noch im Griechischen einen einheitlichen Begriff für Muschelseide gab; sie wurde als Meeresprodukt umschrieben. Wichtig: in keinem heute zugänglichen antiken Text wird Muschelseide mit Byssus bezeichnet!

Aquincum – Budapest

Aquincum an der Nordost-Grenze des Römischen Reichs, heute Budapest

Halskette aus Gold und Glasperlen aus dem Grab in Aquincum, 4. Jahrhundert

Aus dem 4. Jahrhundert stammt der erste materielle Beweis für die Muschelseide in der Spätantike. Das Stofffragment wurde 1912 in einem Frauengrab in Aquincum gefunden; das heutige Budapest war damals eine römische Legionärsstadt an der nordöstlichen Reichsgrenze. Die gleichzeitig gefundene Halskette aus Gold und farbigen Glasperlen deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Mumie um eine hochgestellte Persönlichkeit handelte. Einiges spricht dafür, dass das Textilfragment aus den syrischen Provinzen Roms stammt (Maeder 2008). Leider ging dieses Fragment in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren (Hollendonner 1917, Nagy 1935, Wild 1970).
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Weitere Quellen zu Antike und Spätantike:
Jolowicz 1861, Marquardt 1886, Mommsen & Blümner 1893, Laufer 1915, Pfister 1934, Forbes 1956