20. Jahrhundert
Ein Grossteil der schriftlichen Zeugnisse und der inventarisierten Objekte stammt aus der Zeit zwischen 1750 und 1900. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auf Sardinien und in Tarent auf verschiedenen Ebenen und in immer neuen Anläufen Bestrebungen, die Verarbeitung von Muschelseide neu zu beleben. Diese Entwicklung ist relativ gut aufgearbeitet. Ich beschränke mich deshalb auf einige wichtige Personen und Ereignisse und verweise auf die zahlreichen Publikationen.
Sardinien
„…ai primi del Novecento, in Sardegna, la raccolta e la lavorazione del bisso per ricavarne capi d’abbigliamento non estistevano più“ – so schreibt Chiarella Addari 1988. Keine Verarbeitung von Muschelseide also zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dies sollte sich bald ändern. Verbunden ist sie mit zwei Namen, ohne die wir von der Muschelseide in Sardinien wohl nichts mehr wissen würden.
Der sardische Militärarzt Giuseppe Basso-Arnoux (1840-1919) hatte bereits als Kind die Muschelseide kennengelernt. Seine Eltern trugen an Feiertagen Accessoires aus Muschelseide: der Vater, Architekt am königlichen Hof, Handschuhe, die Mutter ein Kopftuch. Daran erinnerte er sich allerdings erst viel später, als ihm einmal Fischer in Oristano Faserbärte der Edlen Steckmuschel zum Kauf anboten (Addari 1988). Von diesem Moment an setzte er sich unermüdlich für die Wiederbelebung des Handwerks ein und verfolgte mit grosser Ausdauer die Möglichkeit einer Industrialisierung der Produktion und Verarbeitung von Muschelseide. Nach seiner Pensionierung zog Basso-Arnoux von Alghero nach Carloforte, aus dem er das industrielle Zentrum der Muschelseide-Verarbeitung machen wollte. Dies scheiterte mangels Unterstützung durch die Fischer, und – wie er schreibt – weil die Frauen dort nicht geeignet seien für so delikate Arbeit. Trotzdem stellte Basso-Arnoux 1908 an der Esposizione dei lavori femminili in Turin sardische Muschelseide-Arbeiten aus. Aber auch hier Enttäuschung: das Publikum sei indifferent geblieben. Auch an Ausstellungen in Mailand, Berlin, Cettigne (Montenegro) und Genua hatte er sich beteiligt (Basso-Arnoux 1916). 1910 vermittelte er zur Einweihung des Ozeanographischen Museums in Monaco für 400 francs mehrere Objekte, die in La Maddalena hergestellt wurden: eine Mütze, ein Damentäschchen und mehrere Posamenterien.
Was es mit seiner 1908 erfolgten Gründung der Byssus Ichnusa Society zur Förderung der Muschelseideverarbeitung auf sich hat, liegt noch weithin im Dunkeln. Weshalb war ihr Sitz in London und nicht in Italien? Eine Recherche beim Handelsregisteramt in London blieb erfolglos; der Name ist nicht bekannt.
Drei Jahre vor seinem Tod fasste er in sehr persönlichen Worten seine jahrelangen Bemühungen um das Wiederaufblühen der Muschelseide-Verarbeitung in Sardinien – und sein Scheitern – zusammen: „Ho fatto quanto ho potuto per riuscire ad attirare l’attenzione sui tanti poveri pescatori, che giacciono nella più sqallida miseria, ho sacrificato tempo e denaro, mi rimarrà la soddisfazione d’aver impiegato gradevolmente il tempo, lasciandoche altri profittino dei miei insegnamenti, e che riesca a concretare qualche cosa, che valga sempre più a fare pronunziare il nome d’Italia.“ Kein Erfolg also, mit der Produktion von Muschelseide Armut und Elend der Fischer zu bekämpfen – und zur Ehre Italiens beizutragen. Basso-Arnoux starb 1919 auf der Insel San Pietro, in Carloforte, das er einst als zukünftiges Zentrum der Muschelseideproduktion auserkoren hatte. Sein Grab ist noch heute dort zu sehen.
Wenige Jahre später nimmt ein anderer Sarde den Faden auf. Italo Diana (1890-1967) war in einem Frauenhaushalt in Sant’Antioco aufgewachsen und interessierte sich früh für alles, was mit Spinnen und Weben zu tun hatte. So wäre es durchaus möglich, dass er von Basso- Arnoux gehört hatte. Oder hatte er ihn gar gekannt und hatte von ihm das Wissen über die Muschelseide übernommen? Von Sant’Antioco nach Carloforte sind es nur wenige Kilometer Strasse und eine kurze Schifffahrt. Diana war ja bereits 29, als Basso-Arnoux starb.
Vittorio Alinari, der in Florenz ein Fotoatelier betrieb, beschrieb in einem Bericht über seine zweite Reise in Sardinien vom 5. bis 22. April 1914 die Herstellung und Verarbeitung der Muschelseide zu – offensichtlich gewobenen – Westen, wofür 900 Faserbärte verarbeitet wurden: „Ma la lavorazione più curiosa è quella che si fa della Pinna nobilis, che viene pescata in grande abbondanza nel golfo e la cui appendice terminale (bisso), formata da filamenti setacei, viene, in prima, ripulita dalle concrezioni calcaree che vi stanno aderenti, quindi filata e tessuta. Ne deriva una stoffa di un bel colore metallico, che si avvicina al rame, con la quale si confezionano delle sottoveste che, guernite di bottoni in filigrana d’oro, pure lavorati nel paese e nel Cagliaritano, producono bellissimo effetto. Per ogni sottoveste occorrono almeno 900 code la cui filatura costa, all’incirca, una lira al cento. Questo non puo riternesi un prezzo esagerato perche non puo filarsene che un centinaio al giorno essendo il filo delicatissimo e facila a strapparsi.“ Aus dem Bericht wissen wir, dass Alinari Gast war bei Italo Diana in Sant’Antioco, den er offensichtlich bereits 1913, anlässlich seiner ersten Reise nach Sardinien, kennengelernt hatte. Rund um Cagliari, und im ‚paese‘ sollen diese Stoffe ‚von schöner, metallischer Farbe’ hergestellt worden sein.
Das wohl erstaunlichste Objekt ist ein Wandteppich, der für den Duce anlässlich der Einweihung der neu gegründeten Bergbaustadt Carbonia bestimmt war. In der Mitte prangte das Liktorenbündel und der Schriftzug WW IL DUCE – Evviva il Duce. Die Weberin Assunta Cabras des Ateliers Diana ist mit ihren Initialen AC rechts unten erwähnt, neben Italo Diana ID. Er wurde jedoch nie dem Duce überreicht. Über die Gründe dafür wurde viel gerätselt. In der Biographie über ihren Vater schreibt Emma Diana 2010: “Si sono formulate diverse ipotesi sulla mancata consegna dell’arazzo al Duce, prevista in occasione della visita a Carbonia e nel Sulcis. La verità è che non si raggiunse un accordo per la consegna e l’arazzo restò a casa Diana.” Italo Diana und die Gemeinde konnten sich also über die Art der Übergabe an den Duce nicht einigen. So blieb der Wandteppich schliesslich im Atelier. Er überlebte den Krieg unbeschadet und gelangte irgendwann später wieder in die Öffentlichkeit. Nun allerdings von Italo Diana selber leicht verändert: Um das – ehemalige – Liktorenbündel ranken sich verschiedene undefinierbare Ornamente, und die faschistische Huldigung ist mit politisch unverdächtigen Mustern überstickt.
Von Jolanda Sitzia, ebenfalls Schülerin von Italo Diana, ist ein Foto von einer Ausstellung – mostra dell’artiganato – 1930 in Cagliari überliefert. Alle bis heute bekannten Textilobjekte aus dem Atelier Italo Diana können im Inventar bewundert werden – gewoben oder bestickt, gestrickt oder gehäkelt. Die beiden Töchter von Diana, Mariangela und Emma, wussten vom Wert dieser Objekte und haben sie gut gehütet. Nach dem Tod der beiden Schwestern haben ihre Nachkommen die Verantwortung für dieses einmalige Kulturgut übernommen.
Vermutlich die letzte Ausstellung, in der Muschelseide als Handelsobjekt gezeigt wurde, fand vom 15. August bis 2. September 1950 in Sassari statt: Mostra regionale dell’artigianato delle piccole industrie e delle materie prime della Sardegna. Ob hier auch noch Objekte aus dem Atelier von Italo Diana gezeigt wurden, ist nicht bekannt (anon. 1950). Zu dieser Zeit war er bereits Direktor der Textilabteilung des Istituto Statale d’Arte per la Sardegna in Sassari.
Damit war die Geschichte der Muschelseide als Handelsgut zu Ende. In Sardinien war die Juristin Ginevra Zanetti (1906-1991) die erste, die sich neben ihrer Professur an der Universität Sassari wieder mit dem Thema Muschelseide auseinandersetzte. Im Rahmen ihrer Untersuchungen zum kirchlichen Erbe Sardiniens erschien 1964 eine ausführliche Studie über Muschelseide und liturgische Textilien: Un‘ antica industria sarda: il tessuto d’arte per i paramenti sacri. An der gleichen Universität war Gerolama Carta Mantiglia († 2013) Professorin für sardische Volkskunde. Sie hatte Leonilde Mereu aus Sant’Antioco und ihre textilen Arbeiten gekannt und bearbeitete im Kontext der sardischen Textiltraditionen auch das Thema Muschelseide. Sie war auch Mit-Autorin am Ausstellungskatalog Basel 2004.
Die Cooperativa Archeotur wurde 1984 in Sant’Antioco als Genossenschaft gegründet. Sie ist zuständig für die bedeutenden archäologischen Stätten vor Ort, die über die Araber, Römer, Punier, Phönizier bis in die prähistorischen Epochen zurückreichen, und sie leistet seit vielen Jahren und mit Leidenschaft einen grossen Beitrag, um das Wissen um die kulturellen und handwerklichen Traditionen der Insel zu vermitteln. Im Museo Etnografico der Cooperativa Archeotur wird auch die lokale Muschelseideproduktion gezeigt.
Tarent
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Tarent die Steckmuschel als Nahrung geerntet, jährlich zwischen 20’000 und 30’000 Muscheln. Der daraus gewonnene Rohbyssus (der Byssus einer Muschel wiegt 1-3 Gramm) betrug 30 bis 40 kg. 1928 erschien im Consiglio Provinciale dell’Economia di Taranto die illustrierte Schrift Bisso e Porpora: per la rinascita delle due grandi industrie von Beniamino Mastrocinque. Sie endet mit der Aufforderung, aus dem in kleinem Rahmen und nur noch in wenigen Familien gepflegten Handwerk der Muschelseide-Verarbeitung eine ökonomische Aktivität mit Arbeitsplätzen zu machen. Dazu mussten zwei Vorbedingungen erfüllt werden: eine regelmässige Versorgung mit Byssus sowie die Möglichkeit einer mechanisierten Verarbeitung der Muschelseide. Glauben wir Mastrocinque, so wurde um 1928 auch überlegt, Byssus aus Sardinien nach Tarent einzuführen, da dort ja niemand Nutzen daraus ziehe: „…e si potrebbe altresi utilizzare il bisso ricavato da quella pescata in altre spiagge della penisola e delle isole, specie della Sardegna, e da cui oggi non si trae alcun profitto“. Man kann daraus schliessen, dass Mastrocinque zu dieser Zeit nichts von den Bemühungen in Sardinien wusste – im Gegensatz zu Basso-Arnoux, der Mastrocinque erwähnt.
Der Marinebiologe Attilio Cerruti führte am Istituto sperimentale talassografico in Tarent in den 1930er Jahren Studien und Zuchtversuche mit der Pinna nobilis durch (Cerruti 1938 & 1939). Filomena Martellotta (1894-1927) gründete 1923 (also im gleichen Jahr, in dem Italo Diana in Sant’Antioco sein Atelier gründete) die erste Scuola privata di Avviamento Professionale per la Donna (heute Istituto „I.I.S. Principessa Maria Pia“) – die Verarbeitung der Muschelseide war Lehrfach (D’Ippolito 1994, Campi 2004). Die Schwestern Cesira und Filomena Martellota spielten wohl eine bedeutendere Rolle als bis jetzt angenommen. Dies zeigen auch die 2019 neu an die Öffentlichkeit gelangten Objekte, die fast alle auf sie und ihre Nachkommen zurückgehen. Die Lehrerin Rita del Bene (1909-1998) experimentierte mit der Verarbeitung der Muschelseide auf dem mechanischen Webstuhl, was schliesslich 1936 zu einem Patent führte (Del Bene, 1937). Sie war eine glühende Faschistin, die in der Muschelseide einen Beitrag sah an die Autarkie im textilen Luxussegment: „I filamenti serici della pinna nobilis (…) servono benissimo nel settore dei tessuti a dare un notevole decisive contributo all’autonomia economica della nostra Grande Italia.“ 1938 sollte ein Lehrstuhl für Muschelseideverarbeitung eingerichtet werden, der jedoch mangels finanzieller Unterstützung durch das römische Ministerium nicht zustande kam. Del Bene gründete daraufhin eine eigene, private Schule zum Erlernen der Muschelseideverarbeitung, welche kurz vor dem 2. Weltkrieg von 22 Schülerinnen besucht wurde.
Im Dezember 1942 richtete sie einen Brief ans Wirtschaftsministerium in Rom, in dem sie die alleinigen Rechte an allen Pinna nobilis verlangte, in allen Meeren des Reiches, seiner Kolonien und allen besetzten Gebieten: „l’esclusività della raccolta della pinna nobilis ovunque e comunque essa venga prodotta, sia naturalmente che arficialmente, in tutti i fondali marittimi compresi nei mari del Regno, delle sue Colonie e dei territori di occupazione“.
Alle diese Projekte endeten mit dem Zweiten Weltkrieg und wurden nachher nicht weiterverfolgt. In Tarent wurde die Muschelseide vor allem in Zusammenhang mit Literatur über Reisende auf Grand Tour im 18. und 19. Jahrhundert erwähnt. In der lokalen Geschichtszeitschrift Cenacolo erschienen in den 1990er Jahren einige Publikationen von Giacinto Peluso, Lehrer, Schriftsteller und Lokalhistoriker, und von Lucia D’Ippolito, heute Direktorin des Archivio statale von Tarent – beide ohne grösseres Echo. Die Direktorin der Biblioteca comunale Acclavio war höchst erstaunt, als ich in 1999 das Thema meiner Forschung nannte: Muschelseide. Come mai una Svizzera, di un paese interno, arriva a portarci le radici della nostra storia? (Wie kommt es, dass eine Schweizerin, aus einem Binnenland, zu uns kommt, um uns die Wurzeln unserer Geschichte zu bringen?) Diese wichtige Phase in der Geschichte der Muschelseide in Tarent hat Lucia D’Ippolito im Katalog zur ersten dem Thema gewidmeten Ausstellung, die 2004 in Basel stattfand, aufgearbeitet (D’Ippolito 2004).