Neuzeit
Im späten 15. und im 16. Jahrhundert bringen die Entdeckung Amerikas und der wachsende Seehandel neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften. Die Erfindung des Buchdrucks trägt zu deren Verbreitung bei. Als Meeresprodukt findet der Faserbart der Edlen Steckmuschel (zoologischer Fachbegriff: Byssus), zusammen mit der Muschel Eingang in die ersten gedruckten und illustrierten Naturbücher. Manchmal wird auf dessen Verwendung als Texilprodukt hingewiesen.
Ein Grossteil der heute noch existierenden Textilobjekte aus Muschelseide fand über Naturalien- und Kuriositätenkabinette den Weg in die daraus hervorgegangenen naturhistorischen Museen; sie sind selten in Textilsammlungen zu finden.
Nachrichten über die Muschelseide finden sich in vielen Reisebeschreibungen und Tagebüchern junger Adliger auf Grand Tour. Sie sind auch Geschenke in aristokratischen Kreisen von Kirche und Staat: „In kleinen Quanten genommen, diente die Muschelseide für die Herstellung von Neujahrsgeschenken der neapolitanischen Könige an die Schaaren kratzfüsselnder Höflinge.“(Grothe 1873) Auch Bürger unternehmen nun Bildungs- und Studienreisen, berichten darüber und bringen oft Muschelseideobjekte nach Hause. Eine nicht zu überschätzende Bedeutung kommt dem Erzbischof von Tarent, Giuseppe Capecelatro zu.
Ende des 18. Jahrhunderts experimentieren französische und deutsche Textilfirmen mit der Muschelseide – ohne kommerziellen Erfolg. Später finden solche Textilien fast nur noch als Objekte an verschiedenen Messen und an Weltausstellungen in Europa und USA Erwähnung.
Nach 1900 erleben Apulien und Sardinien eine kurze Neubelebung der Muschelseideverarbeitung. Der Zweite Weltkrieg beendete sie. Heute steht die Edle Steckmuschel unter Schutz, eine Wiederbelebung der Produktion ist illusorisch. Umso wichtiger sind deshalb die Bemühungen, das Wissen um dieses Kulturgut zu erhalten und an die nächsten Generationen weiterzugeben.
Naturbücher
Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert brachte auch bald die ersten gedruckten und illustrierten Bücher, die sich mit Pflanzen und Tieren beschäftigen. Einige enthalten Beschreibungen und Illustrationen von Muscheln und Schnecken. So fand das Wissen um den Faserbart der Steckmuschel und die daraus hergestellte Muschelseide zum ersten Mal eine grössere Verbreitung.
Das erste ausschliesslich Muscheln und Schnecken gewidmete Buch erschien 1681: Ricreatione dell’occhio e della mente nell’osservation’ delle chiocciole. Das von Filippo Buonanni (1638-1725) in italienischer Sprache verfasste Buch ist eines der ersten naturwissenschaftlichen Bücher, das nicht in Lateinisch verfasst ist – eine lateinische Fassung erschien jedoch bereits drei Jahre später. Unter Buonannis Kupferstichen finden sich auch zwei Steckmuscheln mit Haftfäden. Die Verwendung des Byssus als Textilmaterial war ihm bekannt: Er nannte es bisso marino, Meeresbyssus und setzte diesen deutlich dem bisso terrestre entgegen, dem ‚ländlichen’ Byssus also, welcher aus Leinen oder Baumwolle bestehe. Knapp 100 Jahre später wird das Buch für einen Bildband über Schnecken ins Deutsche übersetzt, mit dem schönen Titel ‚Vergnügen der Augen und des Gemüths, in Vorstellung einer allgemeinen Sammlung von Schnecken und Muscheln, welche im Meer gefunden werden‘ (Knorr 1764).
Im 18. Jahrhundert wird der Byssus zum naturkundlichen Forschungsobjekt. Der französische Naturforscher René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683–1757), Mitglied der Académie Royale des Sciences in Paris, studierte die verschiedenen Arten der Verankerung von Meerestieren im Untergrund. Er beschreibt auch die Steckmuschel und die Feinheit der Haftfäden und vergleicht sie mit dem groben Werg, einem Abfallprodukt der Leinenherstellung: „…les fils sont par rapport à ceux des Moules ce qu’est le plus fin lin par rapport à l’étoupe„. Ein Stich zeigt eine Muschelschale mit dem an einem Stein haftenden Byssus sowie ein Ernteinstrument. 1742 erscheint das erste Muschelbuch in französischer Sprache, die Conchyliologie des Gelehrten Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville (1680–1765). Die Pinne marine sei verbreitet in Sizilien, Sardinien und Korsika, man mache daraus Stoffe, Strümpfe und Handschuhe. Die Seide habe grosse Ähnlichkeit mit dem Byssus der Alten. Hier wird also auch im Französischen das Produkt der Steckmuschel, die Muschelseide, mit dem antiken Leinenbyssus verwechselt.
Friedrich Heinrich Wilhelm Martini (1729–1778) gründete 1773 die Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin. Auch Alexander von Humboldt (1769-1859) gehörte ihr. Sie existiert noch heute. Martinis zwölfbändiges Conchylien-Cabinet, das ab 1769 erscheint, war in seinem wissenschaftlichen Anspruch seiner Zeit weit voraus und wurde zu einem Standardwerk. Nach Martinis Tod setzte Johann Hieronymus Chemnitz (1730–1800) seine Arbeit fort. Im 1785 publizierten achten Band behandelt er ausführlich die verschiedenen Arten der Steckmuschel: „Jede Steckmuschel pfleget auf der einen Seite ihres schalichten Wohnhauses einen ziemlichen Büschel Seide hervorzustrecken, welcher Byssus genannt wird. … Zu Reggio, Tarent, Neapel, Messina und in mehreren Städten Italiens und Siziliens, giebt es sehr ansehnliche Fabriquen, darinnen diese Muschel Seide zu Strümpfen, Handschuhen, Westen, Beinkleidern u. dgl. verarbeitet wird.“
Wunderkammern und Naturaliensammlungen
Kuriositäten-, Kunst- und Naturalienkabinette, Raritäten- und Wunderkammern sind aus der Wissenschaftsgeschichte nicht wegzudenken, bilden deren Sammlungen doch die Basis fast aller heutigen Museen Europas (Fontes da Costa 2002). Dies gilt speziell auch für die naturhistorischen Museen. Exotische Muscheln sind früh Handels- und beliebte Sammelobjekte in den Niederlanden, in Deutschland, Frankreich, Dänemark, England und Italien. Muschel- und Schneckenschalen – als Conchilien zusammengefasst – fehlen in kaum einer Sammlung. Nicht nur Naturalien werden aufbewahrt und präsentiert, sondern auch daraus hergestellte Produkte. So findet – neben Korallen, Perlen und weiteren Meeresprodukten – mit der Steckmuschel deren Faserbart und später auch Textilobjekte aus Muschelseide Eingang in naturkundliche Sammlungen. Den ältesten Hinweis dafür finden wir beim Engländer John Evelyn (1620-1706), dessen Tagebuch auch eine Reise durch Italien beschreibt. Am 4. Februar 1645 besucht er in Neapel das Museum des Apothekers und Naturforschers Ferrante Imperato (1550-1625). Dieses Theater der Natur, wie er es nennt, ist ein grosser Anziehungspunkt für gebildete Reisende. Evelyn schreibt: „Among the natural herbals most remarkable was the Byssus marina and Pinna marina.“ (Bray 1901)
1649 finden wir den ersten Hinweis in Frankreich. Zum Kabinett eines Arztes in Castre, im Languedoc, gehören eine Pinna und ihr Faserbart, die Meeresseide, un peu de la soye de mer, qu’elle porte (Borel 1649).
Der italienische Edelmann Ferdinando Cospi (1606-1686) war Besitzer eines Kabinetts in Bologna, das auf einem detailreichen Kupferstich verewigt ist. Auf dem Unterbau des Ausstellungsmöbels sind mehrere Schalen der Steckmuschel angebracht. Im Katalog zu diesem Kabinett wird auch deren Faserbart erwähnt als ‚Wolle der Steckmuschel‘, welche ‚die feinste Seide imitiere‘ (Legati 1677).
Aus all diesen Beispielen geht hervor, dass die Besitzer nicht nur die Muschel, sondern auch deren Faserbart als sammelwürdig betrachteten. Wussten sie aber auch schon von der Verarbeitung des Faserbarts zu Muschelseide und deren Verwendung als Textilmaterial?
Im 18. Jahrhundert ist diese Frage geklärt, und wir finden auch die erste Verwendung des Begriffs Muschelseide: „Die Steckmuscheln (pinnae), welche häufig in dem mittelländischen Meere um die Insel Malta, Corsica, Sardinien etc gefunden werden, ziehen aus ihrem Rüssel, wie die Spinnen, aus dem Hintersten zarte Fäden, woraus man in Tarento, Palermo etc allerley schöne Stoffe, Zeuge zu Kleidern, Camisölern, Mützen, Strümpfe, Handschuhe verfertigt. Die natürliche Farbe dieser Muschelseide fällt ins Olivengrüne, ist aber nicht so weich und fein, als die ordentliche Seide. In Sammlungen hat man öfters Gelegenheit, dergleichen gearbeitete Sachen zu sehen.“ (Rudolph 1766)
Hans Sloane (1660-1753), der Begründer des British Museum in London, wird als letzte universale Sammlerpersönlichkeit bezeichnet. Die zwischen 1702 und 1747 von ihm selber katalogisierte Sammlung enthielt fast 6’000 Muscheln, und neben Korallen, Schwämmen auch Handschuhe aus Muschelseide: „A pair of men’s glove made of the beard of the pinna marina in Andalousia in Spaine sent me by His Grace the Duke of Richmond“. Diese Handschuhe werden später einmal als „one of the most curious items connected with the invertebrate exhibits“ beschrieben (Way 1994). In Van Rymsdyk’s Katalog Museum Britannicum von 1778 ist einer dieser Handschuhe abgebildet. Im Sloane-Katalog ist noch ein weiterer einzelner Handschuh aus Muschelseide aufgeführt, ebenfalls ein Geschenk des Duke of Richmond. Beide Objekte sollen ursprünglich aus der Sammlung von Martin Lister (1639-1712) stammen, dem Autor von Historiae Conchyliorum (1685-1692) und Conchyliorum Bivalvium (1696). Nach Sloanes Tod 1753 wurde seine gesamte Sammlung – auch die Objekte aus Muschelseide – vom englischen Staat für das neue British Museum gekauft. Ein 12-jähriger Junge erzählt von seinem Besuch im eben gegründeten Museum: „Der nächste Raum war mit allerlei Schlangen und Eidechsen gefüllt… Es gab dort auch ein Paar Handschuhe, die aus den Bärten von Muscheln gemacht worden waren“ (Blom 2004). Sloane’s Sammlung bildet den Kern der heutigen Molluskensammlung des Natural History Museums in London, zu der heute noch mehrere Textilobjekte aus Muschelseide gehören.
Don Pedro Francisco Davila (1710–1775), ein in Paris lebender Peruaner, musste 1767 seine umfangreiche naturkundliche Sammlung verkaufen. Um den finanziellen Erfolg der Auktion zu erhöhen, veröffentlichte er einen dreibändigen ‚systematischen und durchdachten Katalog der Kuriositäten der Natur und der Kunst‘. Unter den Muscheln seiner Sammlung sind auch eine Pinne-marine verzeichnet sowie Handschuhe und Strümpfe aus Muschelseide aus einer neapolitanischen Manufaktur: „On a joint à cette Coquille une paire de bas & une paire de gands de Byssus, qui ne cèdent rien à ceux de soie pour la finesse & la beauté. Ils viennent de la Manufacture de Naples.“
Auch der deutsche Naturforscher Johann Hieronymus Chemnitz (1730-1800) besass in seinem Conchylienkabinett in Wien „ein paar Strümpfe von solcher in Italien gewebten Muschelseide, welche an Schönheit und Feinheit den besten seidenen wenig nachgeben, und mit ihrem spielenden unnachahmlichen Goldglanze sie noch übertreffen“ (Hauber 1782).
Im Strassburger Musée zoologique sind in einer Vitrine Ellbogenstulpen ausgestellt, zusammen mit einer Edlen Steckmuschel und mehreren zusammengeklebten Faserbärten. Sie waren das Geschenk eines sizilianischen Studenten, M. Ribasse, an seinen Lehrer, den Strassburger Arzt und Universitätsprofessor Jean Hermann (1738–1800). Dessen Sammlung wurde später in das 1893 gegründete Museum integriert.
Das Naturhistorische Museum Braunschweig entstand ebenfalls aus einer fürstlichen Sammlung. Karl I. Herzog von Braunschweig und Lüneburg (1713–1780) richtete 1754 in der Burg Dankwarderobe das Herzogliche Kunst- und Naturalienkabinett ein. Im Inventar von 1857 ist ein Paar Strümpfe aufgeführt „so von der bey allen Steckmuscheln sich findenden Seide, bissus genannt, verfertiget sind“. Sie waren lange die einzigen bekannten Strümpfe aus Muschelseide, bis nun auch im Bayrischen Nationalmuseum München ein Paar identifiziert wurde.
Gustav Friedrich Klemm (1802-1867), Kulturhistoriker und Bibliothekar in Dresden, beschrieb 1850 eine kulturgeschichtliche Sammlung. Diese bezweckte, „die Entstehung und den Fortschritt der verschiedenen menschlichen Gewerbs- und Kunsterzeuge aus den von der Natur im Stein-, Pflanzen- und Thierreiche dargebotenen Stoffen und Gestalten durch Thatsachen und Körper nachzuweisen“. Dazu gehörte auch eine ‚Sammlung von Handschuhen aus seltneren Stoffen, wie Muschelseide‘. Seine Sammlung bildet den Grundstock des späteren Museums für Völkerkunde in Leipzig.
Grand Tours und Bildungsreisen
Reiseführer, Reiseberichte und Tagebücher sind wichtige Quellen für die Geschichte der Muschelseide. Italien war seit dem 17. Jahrhundert nicht nur das obligate Reiseziel junger Adliger auf Grand Tour, sondern bald auch der neuen Schicht der naturwissenschaftlich interessierten bürgerlichen Bildungsreisenden. Die südlichste Endstation auf dem Festland war meistens Neapel. Die wenigen jedoch, welche Tarent, die ehemalige Hauptstadt Großgriechenlands, besuchten, berichteten fast immer von der Muschelseide.
Ein Zweck des Reisens war zu dieser Zeit das Sammeln neuen Wissens über Land und Kultur der bereisten Länder und dessen spätere Vermittlung. Zu den vielfältigen Reisevorbereitungen gehörte deshalb das Studium naturkundlicher Führer. „Récolte-t-on de la soie de la Pinne marine, appelée vulgairement astura (jambonneau), comme on le fait en Istrie?“ – so fragte der Italiener Alberto Fortis (1741-1803) in seinem 1771 erschienenen Reiseführer für die dalmatische Küste: Informations préliminaires, que l’on croit nécessaires pour servir de direction à des voyages tendant à illustrer l’histoire naturelle…. Er hatte Dalmatien bereist und dabei die Verarbeitung der Muschelseide kennen gelernt (Fortis 1778). Noch im 19. Jahrhundert lesen wir: „Ehemals wurde dieses Material nach Neapel verkauft, jetzt wird es in Dalmatien selbst verarbeitet.“ (Blumenbach 1846). Leider konnten in Kroatien bis heute keine weiteren schriftlichen oder materiellen Hinweise gefunden werden.
Ebenfalls im 19. Jahrhundert wurde in einem Handbuch für Reisende im Kapitel Tarent auf die Muschelseide hingewiesen: „… ausserdem wird hier noch eine Muschel gefunden, Pina marina genannt, welche einen Büschel feiner Haare oder Fasern von glänzender grüner Farbe enthält die gesponnen und zu Handschuhe, Strümpfen u.s.w. verarbeitet werden“ (Neigebaur 1826).
Der dänische Universalgelehrte und unermüdlich Reisende Nicolaus Steno (1638-1686) weilte vom Herbst 1668 bis zum Frühling 1669 in Italien. In seinem Bericht erwähnt er eine ‚Seesteckmuschel‘ und ihren Byssus, nicht jedoch dessen Verarbeitung zu Muschelseide (Stensen 1669).
1740 publizierte der deutsche Universalgelehrte und Reiseschriftsteller Johann Georg Keyssler (1693– 1743) ein Buch über seine vielen Reisen. Unter den ‚Merkwürdigkeiten des Königreichs Neapolis‘ findet sich die Muschelseide: „Einer sonderbaren Fabrike muss ich hiebey gedenken, welche vornehmlich zu Tarento und Reggio im Schwang ist, und wozu die Fäserchen oder eine Art von Haaren und Wolle, die an einer gewissen Sorte von Muscheln gefunden wird, Gelegenheit geben. Den diese hat man also zu reinigen und zu bereiten gelernet, dass anitzt Camisoler [Westen], Mützen, Strümpfe und Handschuhe, welche wärmer als Wolle halten, daraus gestricket und verfertiget werden. An der Weiche und Feinigkeit kommen solche der Seide nicht bey; hingegen behalten sie stets einen sonderbaren Glanz. Die natürliche Farbe dieser Muschelwolle fällt in das Olivengrüne… .“ (Keyssler 1741)
Johann Hermann Riedesel, Freiherr zu Eisenbach (1740-1785) war Gesandter Friedrich II. am Wiener Hof. Sein Buch ‚Reise durch Sicilien und Grossgriechenland‘ von 1771 wurde ein Grosserfolg und sollte auch Goethe als Reiseführer durch Süditalien dienen. Riedesel erreichte am 20. Mai 1767 Tarent und lernte dort die Wolle der Pinna kennen: „Diese Lana Penna, welche wohl einen halben Palm lang ist, wird a Capo St. Vito, der mittägigen Spitze des Tarentinischen Hafens, häufig gesichtet: Unerachtet ihrer Grösse giebt sie sehr wenig von der Seide, aus welcher Strümpfe, Handschuhe, und verschiedene Kleidungen gestrickt werden; und von einem Pfund dieser rohen Wolle bleiben nur 3 Unzen, nachdem sie bereitet worden, wozu 40-50 Muscheln erfordert werden: Die Fischer verkaufen diese rohe Wolle, das Pfund 12-16 Carlini, und ein paar Handschuhe wird um 30, ein paar Strümpfe aber um 100 – 120 Neapol. Carlini, oder 10-20 Ducati, verkauft: Die Bereitung davon ist sehr mühsam und künstlich; man kan nichts als die Spizen davon gebrauchen, und die andere Helfte wird weggeworfen; sie wird unzählige Male in kaltem Wasser gewaschen und an der Luft getrocknet, bis sie von allen Unreinigkeiten gesäubert worden; muß alsdann auf einem feinen Kammbrete von Drat gekämmt, und endlich mit kleinen Spindeln gesponnen und gestrickt werden. Viele vermischen sie mit ein wenig Seide, damit sie mehr Festigkeit bekomme, wodurch sie aber die Gelindigkeit und Wärme verliert.“ (von Riedesel 1771)
Der französische Maler und Kupferstecher Jean-Claude Richard de Saint-Non (1727-1791) publizierte in den 1780er Jahren ein 5-bändiges Werk über seine Italienreise. In Tarent sprach er mit Fischern, die ein Pfund Faserbärte zu 18 carlins verkauften; offensichtlich ein hoher Preis, den nur die Reichsten bezahlen konnten: „On nous dit … qu’ils n’y avoit que les Gens le plus opulens en état d’acquérir une marchandise aussi coûteuse“ (Saint-Non 1783).
Der englische Reiseschriftsteller Henry Swinburne (1743-1803) unternahm mit seiner Frau zwischen 1777 und 1780 mehrere Reisen in Italien. Sein Reisebericht erschien 1783 und wurde bereits zwei Jahre später ins Französische und Deutsche übersetzt. In Tarent verbrachte Swinburne einen Nachmittag mit einem Fischer auf dem Mar piccolo und dem Mar grande und liess sich dabei alle Muscheln und Schnecken zeigen sowie deren Gewinnung und Verwendung erklären. Hier lernte er auch die Muschelseide kennen: „Unterhalb dem Cap, St. Vito, welches ehemals wegen einer Abtei Basilianischer Mönche berühmt war, und in denen mehrsten Gegenden vom Mare Grande, sind die Felsen mit der Pinna Marina besetzt. Dieses zweyschaligte Muschel-Geschlecht ist häufig über 2 Fuß lang. Sie hängt sich mittelst ihrer eigenen Klammer an die Steine, und laßt einen grossen Büschel seidenartiger Fäden aus der Schaale heraus, welche umherschwimmen und spielen, um kleine Fische anzulocken. Die Pinna wird vermittelst der Hacken von denen Felsen losgemacht, und nur wegen ihres seidenartigen Büschels, der den Namen Lanapenna führet, zerbrochen. Es wird diese Seide roh, etwa das Pfund für funfzehn Carlinen, an Frauensleute verkauft, die sie gut mit Seife und frischem Wasser auswaschen. Wenn sie vollkommen von aller Unreinigkeit gesäubert, ist trocknet man sie im Schatten, kämmt sie mit einem weiten Kamme gerade, schneidet die überflüssigen Wurzeln ab, und krempelt das übrige. Auf diese Weise bleibt von einem Pfunde roher Fäden ohngefehr drey Unzen feines Garn. Von diesem stricken sie Strümpfe, Handschue, Mützen und Westen. Gemeiniglich aber mischen sie ein wenig Seide darunter, um es stärker zu machen. Es ist ein schönes gelbbraunes Gewebe, welches dem glänzenden Golde auf dem Rücken einiger Fliegen und Käfer ähnlich siehet. Man hat mir erzählet, daß die Lanapenna ihren Glanz dadurch erhält, daß sie in Citronen-Safte eingeweicht, und nachher mit dem Bügeleisen der Schneider gepresset wird.“ (Swinburne 1785)
Die detaillierteste Beschreibung der Gewinnung und Verarbeitung von Muschelseide stammt vom Schweizer Naturforscher Carl Ulysses von Salis Marschlins (1760-1818). Sein 1793 erschienener Bericht über seine Reisen in verschiedene Provinzen des Königreichs Neapel wurde später ins Englische und Italienische übersetzt. „Obgleich alle Meere, welche das Königreich Neapel umgeben, diese Muschel reichlich und in einer ungewöhnlichen Grösse hervorbringen, so ziehen doch die Tarentiner allein, wesentlichen Nutzen von derselben; sie sammeln sie sogar an den Küsten von Sardinien und Corsika. Aber nicht überall ist das Büschel Seide, um welches willen man sie aufsucht, von gleicher Vortrefflichkeit. Wo der Meeresgrund sandigt ist, kann man die Muschel mit dem im Sande gewurzelten Büschel leicht herausziehen, und wenn es gewaschen worden ist, so ist seine Farbe goldglänzend. Im schilfichten und also dabey meistens leimichten Grunde steckt nicht nur die Muschel und die Seide so fest, dass sie beym herausziehen fast immer abbricht, sondern die Farbe der Seide ist auch schwarz und ohne Glanz. Die Muschel steckt immer aufrecht, offen und einer halben Palmen tief im Meeresgrund. Sobald die Fischer eine genugsame Anzahl Steckmuscheln bekommen haben, so wird die Muschel geöffnet, die Seide vom Thiere abgeschnitten, zweymal in lauem Wasser, dann einmal mit Seife, dann wieder zweymal mit lauem Wasser gewaschen. Man breitet sie nun auf einer Tafel aus, und lässt sie an einem kühlen beständig schattigen Ort halb trocken werden. Während dem sie noch etwas feucht ist, wird sie mit den Händen sanft auseinander gerieben und dann wieder auf die Tafel gelegt und ganz getrocknet. Nach diesem wird die Seite durch den weiten Kamm gezogen, und hernach durch den engen. Diese sind beide von Bein, und gleichen, die Grösse ausgenommen, unsern Haarkämmen. Die Seide, so wie sie nun gekämmt ist, gehört zur gemeinen und heisst Extra dente. Allein diejenige, die zu feinern Arbeiten bestimmt ist, wird noch durch die eisernen Kämme, daselbst Scarde, bey uns Kartätschen genannt, gezogen. Alsdann wird sie mit der Spindel in der Hand gesponnen, zwey oder drey Fäden zusammen verbunden, immer ein Faden rechte Seide darunter gemischt, und alsdann mit den Nadeln nicht nur Handschuhe, Strümpfe und Westen, sondern ganze Kleider gestrickt. Sobald das Stück fertig ist, wird es in hellem Wasser, welches mit Zitronensaft vermischt seyn muss, gewaschen, dann zwischen den Händen ein wenig ausgeklopft, endlich aber mit einem warmen Eisen ausgeglättet. Die schönsten haben eine zimmetbraune, goldglänzende Farbe, welche die angenehmste Wirkung hervorbringt. Alles, was aus dieser Steckseide verfertigt wird, ist den Motten sehr unterworfen, und daher muss man es von aller Zucker- und Esswaare entfernen und zwischen reiner Wäsche aufbewahren. Ein paar Weiberhandschuh kosten an Ort und Stelle 16 neapolitanische Carlins, oder 3 Gulden 10 Kreuzer Reichsgeld. Ein paar Strümpfe 3 bis 4 neapolitanische Dukaten und das übrige im Verhältnis. Bey allem dem ist der Vertrieb dieser Waare nicht sehr gross. Ich für mein Theil zweifle daran, dass der Byssus der alten aus dieser Stecksiede (sic) bestanden sey…“ (von Salis-Marschlins 1793). Er war nicht nur ein exakter Beobachter, sondern auch ein kritischer Forscher, der die sprachlichen Unstimmigkeiten über den Begriff Byssus kannte.
Giuseppe Capecelatro, Erzbischof von Tarent
Tarent 1778 – 1799. Diesem Mann sind wohl ein Grossteil der heute noch existierenden Objekte aus Muschelseide zu verdanken. Giuseppe Capecelatro (auch Capece-Latro) (1744- 1836) war eine ausserordentliche Persönlichkeit. Aus altem neapolitanischem Adel, Jurist und Mann der Aufklärung, hoch gebildet. Seine aufrührerischen Schriften zur Erneuerung der Kirche – inkl. Aufhebung des Zölibats! – wurden vom Vatikan sogleich verboten. Eine Karriere in der Kirche hatte er mit dem Dienst an seiner Gemeinde getauscht. Swinburne schrieb 1783 über die schwierige wirtschaftliche Situation Tarents, sah aber auch Hoffnung in der Person von Capecelatro, der sich überaus sensibel für das Elend der untersten Schichten zeigte: „…but there is great reason to hope these inconveniencies will be removed by the patriotic and judicious endeavours of the present Archbishop Monsignor Joseph Capecelatro, who has abandoned the road that leads to the purple, and other objects of ecclesiastical ambition, in order to devote his life and talents to the welfare of his flock, and the improvement of his native country.“
Zu einer Zeit, in der der Adel genoss und das Volk bezahlte, förderte der Erzbischof von Tarent nach Kräften alle Erwerbsmöglichkeiten, die sich aus den reichen Fischgründen vor Tarents Küsten ergaben. Die Steckmuschel gehörte dazu. Die Verarbeitung der Haftfäden zu Muschelseide und deren Weiterverarbeitung zu Textilobjekten sollten die Lebenssituation der Leute verbessern. Er selber übernahm die Verbreitung des Wissens in seinem weit gespannten Korrespondentennetz und den Vertrieb der Objekte – Marketing avant la lettre.
1780, nur zwei Jahre nach seiner Wahl zum Erzbischof von Tarent, veröffentlichte der auch naturwissenschaftlich Interessierte eine Schrift über die Muscheln und Schnecken im Mar piccolo: Spiegazione delle conchiglie che si trovano nel piccolo mare di Taranto. Gewidmet wurde sie der russischen Zarin Katherina II., als Vermittler wirkte der Tarentiner Musiker Giovanni Paisiello (1740-1816), der zu dieser Zeit am Hof von Sankt Petersburg als Kapellmeister diente. Zusammen mit mehreren Steckmuscheln und Handschuhen erreichte so das Wissen um die Muschelseide den russischen Hof. Es sollte nachhaltig Wirkung zeigen (Sada 1983) – obwohl bis heute keine Spur all dieser Objekte gefunden werden konnte.
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819), Jurist und Schriftsteller in Berlin, war im Mai 1792 Gast des Erzbischofs Capecelatro in Tarent, worüber er in seinem Tagebuch ausführlich berichtet. „A margine, simpatico e significativo è l’episodio ricordato da Stolberg: la donna invitata dal Capecelatro per spiegargli tutti i passaggi della lavorazione, si inorgoglisce e si commuove per l’interesse e gli apprezzamenti manifestati dallo straniero. Il giorno dopo Stolberg con sorpresa, riceve in dono dalla donna un paio di guanti, segno tangibile della sua riconoscenza. Sebbene di umili origini e forse analfabeta, la sconosciuta tarantina ha dato prova di grande dignità e garbo tanto da colpire la sensibilità di Stolberg il quale ha avvertito la necessità di tramandarci l’episodio.“ (Girelli Renzulli 2000)
Die von Capecelatro eingeladene Tarentinerin erklärte dem Gast nicht nur ausführlich die Verarbeitung der Muschelseide, sondern schenkte Graf zu Stolberg auch ein Paar Handschuhe. Sie gehören heute zur Zoologischen Sammlung der Universität Rostock.
1797 besuchte der König von Neapel, Ferdinando IV. Tarent, begleitet von der Königin, Maria Carolina, Tochter von Maria Theresia von Österreich. Sie wohnten auf dem Landsitz des Erzbischofs, der Villa Lucia mit Blick auf das Mar piccolo. Auch sie wurden von ihm beschenkt mit alcuni berrettini di bisso, Mützen aus Muschelseide (Vacca 1966).
In den Wirren von 1799 wurde Capecelatro verhaftet, nach Neapel verbracht und zu zehn Jahren Kerker verurteilt. Vermutlich durch Vermittlung der erwähnten Königin Maria Carolina wurde er 1801 wieder frei gelassen. Er nahm nun seinen Wohnsitz in Neapel und kehrte nie mehr nach Tarent zurück.
Neapel 1800-1836. In Neapel lebte Capecelatro im zweiten Stock des Palazzo Sessa, der vor ihm vom englischen Botschafter Sir William Hamilton und seiner Frau Emma bewohnt worden war. Capecelatro und Hamilton hatten sich bereits in Tarent kennengelernt. Emma Hamilton war von ihrem späteren Liebhaber, Admiral Horatio Nelson, mit Handschuhen aus Muschelseide beschenkt worden. Am 18. März 1804 schreibt er an Bord der Victory an Emma: „I send you the comb… and a pair of curious gloves, they are made only in Sardinia of the beards of mussles. I have ordered a muff; they tell me they are very scarce, and for that reason I wish you to have them.“ Die Handschuhe hat sie also vermutlich erhalten – wo sind sie heute? Der Muff jedoch liess auf sich warten, schreibt er doch am 20. August 1804 erneut: „I have not yet received your muff; I think, probably, I shall bring it with me“. (Nelson 1814)
Im Briefwechsel Capecelatros mit seinem Vikar Antonio Tanza (1740-1811), der in Tarent die bischöflichen Pflichten übernommen hatte, finden wir mehrere Bestellungen von Objekten aus Muschelseide: 1802 eine Weste und Socken, una camisciola di lanapinna ed un paio di calzette dell’istesso genere für einen marchese Taccone, 1804 vier Paar Herren und zwei Paar Damenhandschuhe di lanapesce sowie zwölf Mützen, berrettini sfioccati (pelzartig verarbeitet?), 1805 sechs Herren- und 4 Damenhandschuhe di lanapinna – die Grösse lag als Papiermuster bei – sowie zwölf Paar Herrenhandschuhe und sechs Paar lange Damenhandschuhe di lanapinna travagliati con qualche maggiore delicatezza. Diese sollten mit der grössten Vorsicht ausgeführt werden, da sie für den Hof von Sankt Petersburg bestimmt waren (Vacca 1966). Leider konnten bis heute keine Spuren all dieser Objekte in Sankt Petersburg gefunden werden. Es müssen Dutzende sein – eine tolle Aufgabe für eine an Textilem interessierte Slavistin!
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) war von 1802 bis 1808 preussischer Resident am päpstlichen Stuhl in Rom. In seinem Briefwechsel mit Carl August von Struensee (1735- 1804), dem preussischen Finanzminister, finden wir die Muschelseide mehrmals erwähnt. Am 18. Februar 1803 beantwortete er den Wunsch Struensees nach Übersendung eines Exemplars der Pinna marina: „…und der Pinna marina werde ich mir alle mögliche Mühe geben, und wenn Er mir nur ein Paar Monate Zeit lassen wollen, hoff ich Ihre Befehle genau erfüllen zu können“. Am 12. März 1803 erneut zum gleichen Thema: „Pinna marina aus Neapel angefordert…“ (von Humboldt 1968) Am Weihnachtstag 1803 berichtet er über seine Bemühungen um die Pinna-marina-Wolle. Am 31. März 1804 wird eine Sendung von 3 Pfund Pinna marina erwähnt – eine erstaunliche Menge. Es ist anzunehmen, dass Capecelatro, mit dem er in Briefkontakt war, sein Ansprechpartner in Neapel war.
1808 wurde Capecelatro Innenminister unter Gioacchino Murat, König Neapels von 1808- 1815 und Schwager Napoleons. „Il più amabile di tutti i verscovi e arcivescovi“, wie er von einer Verehrerin bezeichnet wurde, war ein begnadeter Gastgeber und Netzwerker. Vom schwedischen König Gustav III. sollen die Worte sein: „Lorsqu’on vient à Naples, il faut y voir Pompei, le Vésuve, et l’archevêque de Tarente.“ Er stand mit fast allen Gelehrten und Schriftstellern seiner Zeit in Briefwechsel: mit Goethe, Herder, Kotzebue, Germaine de Staël, Alexander von Humboldt, Lamartine, Walter Scott, Ludwig I. von Bayern und vielen anderen. Mit Anna Amalia von Weimar (1739-1807) verband ihn eine tiefe Freundschaft. Es ist anzunehmen, dass in den entsprechenden Briefarchiven noch einiges über die Muschelseide zu finden wäre.
Der deutsche Philologe und Bibliothekar Johann Simon Karl Morgenstern (1770-1852) besuchte 1808 Neapel – und Capecelatro. „Er fand hier die bekannte würdige Frau Etatsräthin Brun mit ihrer Tochter. …. Beym Abschiede schenkte der Erzbischof der Mad. Brun und Ida meergrüne Handschuhe, die aus den Fasern einer bey Tarent haufigen Seemuschel (pinna marina) gearbeitet werden.“ (Morgenstern 1813)
Die deutsche Baronin Elisa von der Recke (1754-1833) beschreibt in ihrem 1815 erschienenen „Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und durch Italien, in den Jahren 1804 bis 1806“ einen Tag auf dem Sommersitz des Erzbischofs in Portici bei Neapel: „Der Erzbischof machte mir bei dieser Gelegenheit ein Geschenk mit einem Paar Handschuh von brauner Farbe, deren seidenartigen Stoff ich nicht kannte; er heißt Byssus, und findet sich an einem Muschelthiere des Meeres, Pinna Marina genannt. Er fordert eine Behandlung wie die Baumwolle, bedarf jedoch eines kleinen Zusatzes von Seide, um verarbeitet zu werden. Dies Muschelthier ist an der calabrischen Küste so häufig, dass der Erzbischof mehrere Arbeiter zum Reinigen und Weben dieses Stoffes in Tarent angestellt hat, welche Arbeiten liefern, die bekannter zu seyn verdienten. Leider ist der Erzbischof der einzige Mann von Geist und thätiger Kraft in der Gegend!“ Im Anhang ihres Tagebuches finden wir ein ‚Schreiben des Herrn Erzbischofs von Tarent Don Giuseppe Capece-Latro, auf Veranlassung mehrerer Anfragen aus vielen Ländern Europa’s, über die Natur der Tarentinischen Steckmuschel und die Art ihre Wolle zu verarbeiten’ (von der Recke 1815).
Es ist anzunehmen, dass in der Biblioteca arcivescovile Monsignor G. Capecelatro in Tarent, wo auch seine persönliche Bibliothek zugänglich ist, sowie beim Studium der Briefe von und an Capecelatro, die sich in der Bibliothek der Società di Storia Patria di Napoli in Neapel befinden, noch einiges über die Muschelseide und die Objektgeschichte zu lernen wäre, und vielleicht sogar neue Objekte gefunden werden könnten.
Regionale, nationale Messen und Weltausstellungen
Europa
Für das 19. Jahrhundert sind Ausstellungskataloge und Berichte von regionalen, nationalen, internationalen Messen und Weltausstellungen wichtige Quellen für Textilien aus Muschelseide.
Im Catalogue des productions industrielles, der ersten Industrieausstellung in Paris, die 1801 im Louvre stattfand, werden industrielle Produzenten und ihre Waren aufgelistet, darunter Tuche und Westen aus Muschelseide: „Portique No 23 – Decretot, fabricant à Louviers, département de l’Eure, ayant son dépôt, place des Victoires, Nos. 2 et 18, à Paris: …. drap de pinne marine, gilets en vigogne et pinne-marine,…“ (Holcroft 1804, Viennet 1942). Auch das Magasin encyclopédique, ou Journal des sciences, des lettres et des arts berichtet über dieses ausserordentliche Material.
Anlässlich einer weiteren Pariser Ausstellung erscheint am 6. Oktober 1806 im Journal de l’Empire ein Artikel Sur la pinne-marine et sur les tissus fabriqués avec la laine de ce coquillage: Der goldbraune Glanz sei einmalig unter den Stoffen, weich wie Vikunjawolle, leuchtend, sehr leicht, zu 500 Franken die Elle (ca. 80 cm). „Leur éclat, d’un brun doré, ne peut être égalé par aucune autre étoffe. En douceur, ils égalent la vigogne. … MM. les fabricans de Louviers, qui en ont fait tisser des draps très-éclatans, très-légers, à 500 francs l’aune.“ (Malte-Brun 1806) Wie muss man sich diese glänzenden und ganz leichten Tuche vorstellen?
An der Londoner Weltausstellung 1862 werden verschiedene Muschelseideprodukte aus Italien gezeigt. Der Official Catalogue of the Industrial Departement erwähnt einen Schal und Handschuhe aus Sardinien. „Sub-Class C. 1672 Randacciu, M. Cagliari. – Shawl made with the byssus of the Pinna“, und „Dessi Magnetti Avv. V. Cagliari. – Byssus of the Pinna, with thread, gloves, etc. made of it“. Die Royal Italian Commission, welche diese Objekte nach London gebracht hatte, offerierte sie dem Industrial Museum of Scotland, dem heutigen National Museum of Scotland in Edinburgh. Wie wir im Inventar sehen, erweist sich das als Schal bezeichnete Objekt von Randacciu bei näherer Betrachtung als Kravatte.
Für die Weltausstellung 1867 in Paris wurde der auswählenden Kommission ein Musterbuch mit Muschelseidearbeiten übergeben, un album di lavori in lanapenna. Unter dem Kapitel Gespinnstfasern wird als tierische Faser die Muschelseide erwähnt, „jenes eigenthümlich sattblonde Haargebilde an der Perlmuschel. Sie war von einem Italiener, Simone in Tarent, ausgestellt worden.“ An dieser Ausstellung wurden jedoch nicht nur Muschelseideprodukte aus Tarent und Sardinien gezeigt: „At the Paris International Exhibition, in 1867, Paul Montego, of Asti, Alessandria, also showed shawls made of this byssus.“ Woher die Objekte kamen, und ob Montego nur Vermittler war, ist nicht bekannt (Simmonds 1883).
An der Weltausstellung 1873 in Wien stellte die Camera di Commercio ed Arti von Bari, Apulien, Objekte aus Muschelseide aus, hergestellt von Giuseppa Romano-Gatto aus Galatone: eine 4,19 Meter lange Boa, ein Stück Stoff mit den Massen 5,25 x 1 m, einen Muff und vier Paar Handschuhe. Ein mit weissem Satin gefütterter Schal, una mantella foderata di raso bianco, wurde von Gaetano Passaby ausgestellt – dieser soll ihn später Kaiserin Elisabeth von Österreich geschenkt haben. Die Suche danach hat bis jetzt nichts ergeben. In einem nachträglichen Bericht über die Weltausstellung wird korrigiert: „… la mantelletta di bisso, che sarebbe meglio detta una pellegrina, non fu esposta dal Municipio di Taranto, man bensì dalla Giunta speciale per l’Esposizione di Vienna della Provincia di Lecce, la quale la donò alla duchessa d’Aosta“. Auch vom Verbleib dieser ‚Pelerine’ ist nichts bekannt.
Ausstellungen in Italien. Ausstellungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene waren die Gelegenheit für Italienerinnen und Italiener, vom Handwerk der Muschelseideverarbeitung zu erfahren. Es wird über unzählige berichtet – hier nur ein kleiner Einblick.
Die erste Verkaufsausstellung in Italien, an der ein Objekt aus Muschelseide gezeigt wurde, fand 1811 in Neapel statt: Handschuhe von Francesca Scarfoglia aus Tarent kosteten 1,20 Dukaten und bekamen eine Auszeichnung (Vacca 1966).
In Cagliari, Sardinien fand 1847 eine Ausstellung statt, an der die Figli della Provvidenza ein Mieder und eine Mütze zeigten: „un taglio di corpetto di nachera, berettino di nachera, campione di nachera cardate“, von Giuseppa Poddigue aus Oristano und Anna Melis aus Cagliari (anon. 1847).
1853 wurden an der Esposizione di Napoli mehrere Objekte aus Muschelseide ausgestellt. Das Waisenhaus Santa Filomena in Lecce präsentierte einen Muff und einen quadratischen Wandteppich mit dem Namenszug des Königs – vermutlich Ferdinand II. – „tutto lanapinna con dei piccoli trasparenti de seta agli angoli, e nel mezzo, dentro ghirlanda di fiori, il nome in cifra dell’Augusto nostro Re“ (Mastrocinque 1928). Die Objekte wurden von der Ausstellungsjury mit der grossen Goldmedaille ausgezeichnet. Dieser Wandteppich wird auch im Bericht Dell’industria manifatturiera in Italia erwähnt: „I migliori prodotti di questa materia escono dall’ospizio degli Orfani di S. Filomena a Lecce. Nell’ultima esposizione napolitana dell’industria si ammirava un tappeto quadrato molto grande di lana pinna, con de’festoni di seta agli angoli, ed una ghirlanda nel mezzo.“ (Maestri 1858)
In den Atti del comitato direttivo della prima esposizione sarda, die 1871 in Cagliari stattfand, finden wir vier Objekte aus Muschelseide:
414. Cara Michelina, Cagliari – Un quadretto contenente in rilievo due cagnolini sotto un albero, lavoro in bisso serico di nacchera;
427. Cara Michelina, Cagliari – Un boà ed un manicotto fatti con bisso serico di penna marina (P. squamosa G.M.), conchiglia volgarmente conosciuta col nome di nacchera.
428. Randaccio Marianna, Cagliari – Uno sciallo formato in bisso serico di nacchera.
143. Pinna squamosa (volg. Nàcchera) – Pinna squamosa, Gm. – Del Mediterraneo. …. Oltre a ciò è provveduta di un bisso serico, il quale fin da tempo antico veniva usato per farne tessuti di molto pregio per il naturale ed inalterabile color biondo risplendente sotto l’azione del sole.
Unter Nr. 178 wird auch zum ersten Mal über ein Objekt aus der Schale der Steckmuschel berichtet, mit einer ruhenden Venus, „una pinna marina contenente una Venere in atto di riposo, la quale figura di aver tirato una rete piena di conchiglie“ – es geht aus den Akten nicht hervor, ob es sich dabei um eine Malerei oder eine figürliche Darstellung handelt.
Im gleichen Jahr, 1871, fand in Neapel die Esposizione internazionale marittima statt. Die Schwestern Marasco aus Tarent zeigten einen Wandteppich, der mit der Bronzemedaille und einem Verdienstabzeichen ausgezeichnet wurde (D’Alessio 1958).
An der Esposizione Nazionale Alpina in Turin 1874 wurden drei Krawatten und drei kleine Schals gezeigt, zusammen mit Faserbärten in verschiedenen Stadien der Verarbeitung. Auch eine Monographie zur Steckmuschel lag auf, der Autor ist Giuseppe Fongi (Galiuto 2004).
1884 fand in Turin eine Esposizione Generale Italiana statt, an der die gleichen Objekte wie an der Weltausstellung von 1873 in Wien gezeigt wurden (De Castro 1867/68).
Vermutlich die letzte Ausstellung, in der Muschelseide als Handelsobjekt gezeigt wurde, fand vom 15. August bis 2. September 1950 in Sassari statt: Mostra regionale dell’artigianato delle piccole industrie e delle materie prime della Sardegna. Ob hier auch noch Objekte aus dem Atelier von Italo Diana gezeigt wurden, ist nicht bekannt (anon. 1950). Zu dieser Zeit war er bereits Direktor der Textilabteilung des Istituto Statale d’Arte per la Sardegna in Sassari.
Situation in den USA
Die Vereinigten Staaten von Amerika kannten keine höfische Gesellschaft; so spielten Kuriositätenkabinette kaum eine Rolle in der dortigen Geschichte der Muschelseide. Es waren gewinnorientierte Unternehmer, die auf Reisen in die alte Welt Objekte suchten, an verschiedenen Ausstellungen präsentierten und zum Kauf anboten (Barrow 2000). Das bekannteste Unternehmen – es existiert noch heute – ist das 1862 gegründete Wards Natural Science Establishment in Rochester, New York. Dessen Gründer Henry A. Ward (1834- 1906) lebte zwischen 1854 und 1860 in Europa, studierte und reiste und besuchte die grossen europäischen Sammlungen und die Weltausstellung 1855 in Paris. Auf einer seiner Italienreisen muss er auf die Muschelseide gestossen sein (Kohlstedt 1980).
Die ersten Objekte aus Muschelseide zeigte Ward 1876 an der Ausstellung zur 100. Gründungsjubiläum der Stadt Philadelphia, dann wieder 1893 an der World Columbian Exhibition in Chicago, der zweiten Weltausstellung auf nordamerikanischem Boden. Zur grossen naturwissenschaftlichen Sammlung, die Ward nach Ende der Ausstellung für 95’000 Dollar an Marshall Field verkaufte, gehörte auch ein Muff, eine Zipfelmütze und Handschuhe aus Muschelseide. Field, ein Kaufhausmagnat, wurde zu einem der grossen Gönner des kurz darauf gegründeten Field Museum of Natural History in Chicago. All diese Objekte gehören noch heute zur dortigen Sammlung.
Auch das Smithsonian National Museum of Natural History in Washington kaufte 1896 bei Ward einen Handschuh für die Sammlung. Im Museumskatalog ist er – unter lauter Muscheln und Schnecken – vermerkt: „No. 149395 Pinna glove, Taranto Italy, received from Nashville Exp., collected by Ward, Henry“.
In Wards Verkaufskatalog Mollusca (nach 1890) wird eine Pinna nobilis, Linn. Mediterranean zum Preis von 0.75-2.00 Dollar angeboten. Fig. 215 zeigt sie, mit dem Byssus und der Bemerkung „The byssus of this species has sometimes been mixed with silk, spun, and knitted into gloves, etc.; and we have some of the articles made thus at Taranto, Italy.“ Ob es wohl noch weitere Objekte aus Muschelseide in den USA gibt?
Produktionsorte, Handel und Preise
Wo wurde im Laufe der Jahrhunderte der Faserbart der Edlen Steckmuschel geerntet und zu Muschelseide verarbeitet? Fast die ganze Mittelmeerküste und die südliche Atlantikküste Portugals, sogar die Küste der Normandie wurde irgendwann einmal als Produktiongebiet bezeichnet. Das muss hinterfragt werden. Unbestritten sind Tarent und Sardinien in Süditalien. Objekte sind mit Herkunftsort Menorca und Andalusien (Spanien) archiviert; allerdings müssen auch hier Fragezeichen gesetzt werden, da bis heute keine objektiven Zeugnisse einer dortigen Verarbeitung vorliegen. Weitere in der Literatur erwähnte Produktionsorte konnten (noch) nicht durch glaubwürdige lokale Berichte oder Objektfunde bestätigt werden: Kalabrien, hier vor allem Reggio di Calabria, Neapel und weitere Orte der süditalienischen Küste, Korsika, Malta, die dalmatische, französische und türkische Mittelmeerküste sowie Tunesien (Maeder 2016).
Wie gross war der Handel mit Muschelseide? Auch dies wird höchst widersprüchlich dokumentiert. „Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch ein im Golf von Neapel vorkommendes Muscheltier lange, glänzende Seidenfäden absondert, die unter dem Namen Muschelseide bekannt sind; doch sind die Mengen so gering, dass diese Seide nie Handelsgegenstand geworden ist.“ (Samter 1901) Andererseits werden beträchtliche Handelsmengen erwähnt: „This byssus forms an important article of commerce among the Sicilians, for which purpose considerable number of Pinna are annually fished up in the Mediterranean.“ (Simmonds 1883) Je nach Quelle gehen die Annahmen also von geringen Mengen bis zum wichtigen Handelsgut. Es darf jedoch nicht von der Menge der geernteten Edlen Steckmuscheln auf die Verarbeitung des Faserbarts zu Muschelseide geschlossen werden!
Erste Handelsbelege mit Fragezeichen. Für das 17. Jahrhundert finden wir erste Belege des Handels mit Muschelseide zwischen Lucca – hier ist vermutlich die bedeutende Textilstadt in der Toscana gemeint – und den Niederlanden: „Im Gegentransit beförderte die gleiche Augsburger Firma zwischen 1649 und 1652 von Venedig … 4 Ballen Meeresseide (Muschelseide) aus Lucca, die Abraham von Collen lieferte, nach den Niederlanden. Bei der Augsburger Firma handelt es sich um die Handelsgesellschaft Michael, Gabriel, Hans Jakob Miller und Mitverwandte“ (Blendinger 1978).
Zweifel sind auch angebracht, wenn es um die vielzitierte Produktion von Muschelseide in Sizilien handelt. Der deutsche Naturforscher Chemnitz berichtete 1785: „… Zu Reggio, Tarent, Neapel, Messina und in mehreren Städten Italiens und Siziliens, giebt es sehr ansehnliche Fabriquen, darinnen diese Muschel Seide zu Strümpfen, Handschuhen, Westen, Beinkleidern u. dgl. verarbeitet wird“. Dem widerspricht diametral der Eintrag von Louis de Jaucourt im Band Manufactures, arts et métiers von Diderots Encyclopédie von 1784: „... je n’ai pu découvrir ni à Palerme, ni dans aucun lieu de la Sicile, une seule personne qui s’en occupât“. Auch sind gerade zum Produktionsort Sizilien wiederholt fehlerhafte Aussagen gemacht bzw. abgeschrieben und weitergetragen worden. „A considerable manufactory is established at Palermo; the fabrics made are extremely elegant, and vie in appearance with the finest silk. The best products of this material are, however, said to be made in the Orphan Hospital of St. Philomel, at Lucca“ (Simmonds 1883). Dieses ‚Waisenspital von St. Philomel in Lucca‘ – in die Nähe von Palermo auf Sizilien verortet – wird vor und nach 1883 vor allem in englischen Texten unzählige Male im fast gleichen Wortlaut erwähnt. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um das Ospizio degli Orfani di S. Filomena in Lecce, Apulien, wo Mitte des 19. Jahrhunderts Objekte aus Muschelseide für den Markt in Tarent hergestellt wurden, wie aus den Annali civili del Regno delle Due Sicilie“ 1853 hervorgeht.
Es kann noch einen anderen Grund geben: Im 18. Jahrhundert war der Begriff Regno delle Due Sicilie – Königreich beider Sizilien – für die beiden Herrschaften Neapel und Sizilien üblich. Da in Apulien – ohne Zweifel – Muschelseide produziert wurde, hätte dies zur irreführenden Meinung einer Produktion auch in Sizilien führen können. Wir haben jedenfalls bis heute keinen fundierten schriftlichen oder materiellen Beweis dafür, dass Muschelseide je auf der Insel Sizilien produziert wurde.
Nehmen wir zwei nüchterne und glaubwürdige Zeugen, die Sizilien UND die Muschelseide kannten.
Riedesel studierte auf seiner ‚Reise durch Sicilien und Grossgriechenland’ im Jahr 1767 verschiedenste Wirtschaftsfelder und die Beschäftigungssituation vor Ort. Er erwähnt die ausgedehnte Seidenherstellung in Kalabrien und Sizilien – kein Wort jedoch von Muschelseide. Vier Jahre später, 1771 war er einer der ersten, der über die Muschelseide in Tarent sprach.
Ebenso von Salis-Marschlins. Im Buch ‚Beiträge zur natürlichen und ökonomischen Kenntnis des Königreichs beider Sicilien’ von 1790 beschreibt er ausführlich die (Maulbeer-) Seidenproduktion in Sizilien und erwähnt sogar ein Material, das nur in Mexiko bekannt war (Richter 1928): „Aus den Blättern [der Aloe!] wird eine Seide zubereitet, und daraus werden Strümpfe und Handschuhe gemacht. Ich werde trachten, nähere Nachrichten von der Art, diese Seide zu gewinnen, zu bekommen.“ Die Erwähnung von Strümpfen und Handschuhen lässt aufhorchen, denn Handschuhe machen fast die Hälfte des Muschelseide-Inventars aus. Handelt es sich um eine Erinnerungslücke bzw. eine Verwechslung beim Verfassen des Buches? Es ist anzunehmen, dass er auch die Muschelseide erwähnt hätte, sollte er sie dort kennengelernt haben. Auf jeden Fall wird auch von Salis-Marschlins 1793 ausführlich über die Muschelseideverarbeitung in Tarent sprechen.
Eine weitere historische Verortung einer Muschelseideproduktion ist Kalabrien. Bis heute ist jedoch kein original-schriftlicher oder materieller Beweis bekannt. Auf einer historischen Karte des 18. Jahrhunderts wird Tarent zur Provinz Calabria gerechnet. Dies könnte der Grund sein für diese Aussage, einmal mehr weiter- und weitererzählt.
Eine Quelle, die ich aus Neugier angezapft habe, ohne viel zu erwarten, sind Zolltarife und Warenverzeichnisse. Ich hatte mich getäuscht: Sie erwies sich als ergiebig, auch wenn sie mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Einige Beispiele: ‚Vollständiger alphabetischer Vereins-Zolltarif enthaltend ein alphabetisch geordnetes Verzeichniss aller Waaren, mit Angabe ihrer Ein- und Ausfuhr-Abgaben und den stattfindenden Tara-Vergütungen, nach dem 24-Gulten-Fusse und Zoll-Centner’ heisst einer der ersten Tarife, von 1834. Darin finden wir ‚Pinnamarina-Seide, rohe, gefärbte’. In einem Lexikon der Warenkunde von 1840 aus einem Verlag in Quedlinburg und Leipzig: ‚Pinne marine, ein feines, 3/4 (?) Brabanter Elle breites, olivenfarbiges, goldschillerndes, der Farbe der Muschelseide ähnliches Tuch, welches in den belgischen Fabriken zu Ensival und Verviers, sowie in denen zu Eupen und Monjoie in der preuss. Rheinprovinz verfertig wird’ – ein Imitat also. In einem preussischen Warenverzeichnis von 1841 heisst es ‚Steckmuschelseide (Pina marina)’.
In einem statistischen Warenverzeichnis des Herzogtums Luxemburg von 1885 figuriert Steckmuschelseide unter dem Stichwort Florettseide – was uns an den Handel um 1600 zwischen Venedig und Zürich erinnert. Und schlussendlich ein französischer Zolltarif von 1883 – aber in deutscher Sprache –, in dem es lakonisch heisst: Muschelseide (Byssus). In der New-York Times vom 11. Oktober 1916 mit dem Titel French Embargo is Modified: „According to information received from the American Consul General at Paris, a French order of Oct. 5 permits the exportation to Great Britain, British dominions, protectorates and colonies, uninvaded Belgium, Japan, Russia and countries of North and South America of the articles placed unter embargo by a decree of the same date. These articles include silk in cocoons or raw or thrown, and dyed or thrown and dyed silk, floss silk and byssus, floss and coarse silk threads, sewing, embroidery, passementerie, cords and other silk thread, artificial silk thread stock, silk or floss fabrics, pure or mixed, and all artificial silk fabrics.“
Das neue Zollhandbuch für die gesamte Textilwirtschaft von 1952 listet unter Nr. 5002 „Schappeseide…., 6. Wie Schappeseide ist auch die Steckmuschelseide (Pinna nobilis) zu behandeln.“ Und eine kurze Internetrecherche zeigt in einem deutschen Transport-Informations-Service im Kapitel Seide: „Marineseide: auch Muschelseide oder Bisior genannt, die aus den Fasern von Muscheln gewonnen wird“ (http://www.tisgdv. de/tis/ware/fasern/seide/seide.htm).
Apulien
Seit wann in Apulien und vor allem in Tarent Muschelseide verarbeitet wird, ist nicht bekannt. Bei den in der lokalen Geschichte erwähnten Tarantinidae, ein feines, durchsichtiges Gewebe, das in der Antike vor allem von Kurtisanen getragen worden sein soll, handelte es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um die kostbare, apulische Wolle, die so fein war, dass sie zu durchsichtigen Stoffen verarbeitet werden konnte: „Italian centers of fine wool production lay primarily in the south, including Luceria in Aulia and Brundisium and Tarentum in Calabria. Wool from the latter was so fine that it could be spun into diaphanous material.“ (Sebesta 1994, D’Ippolito 2004). Auch hier wurde also Tarent zu Kalabrien gezählt.
Giovanni Battista Pacichelli besuchte Tarent gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Er berichtete, dass man im Mar Piccolo„… den Flaum, der Muschelseide genannt wird, noch erntet, verspinnt und daraus nützliche Mützen gegen Schmerzen herstellt“ (Pacichelli 1691). Hier liegt wohl eine Verbindung mit dem Wissen um den Einsatz von Rohbyssus der Steckmuschel als Mittel gegen Ohrenschmerzen vor, wie es im 17. Jahrhundert in Malta beschrieben (Heberer von Bretten 1610) und mir von sardischen Fischern als bekannt bestätigt wird.
Wenn 1782 von einer Wiederbelebung der Produktion in Tarent um 1740 gesprochen wird, handelt es sich vermutlich um die späteren Bemühungen Capecelatros: „The ancients had a manufacture of silk, which, about forty years ago, was revived at Taranto and Regio in the kingdom of Naples…“ (Browne 1832). Dies könnte darauf hinweisen, dass die Muschelseideproduktion in Tarent vorher lange Zeit nicht – nicht mehr? – bekannt war. Falls sie früher überhaupt existiert hatte. Es gibt Zweifel daran: „Für die damalige Zeit [in der Antike] finden sich aber keine Angaben über Tarent als Ursprungsort der Muschelseide. Nur weil in neuerer Zeit dieser Ort für die Gewinnung und Verarbeitung des Materials im Vordergrund steht, wird er auch für den Ursprungsort der Muschelseide im Altertum gehalten.“ (Brühl 1938, D’Ippolito 2004)
Am 4. Oktober 1806 – unter Kaiser Napoleon – wurden in Mailand vom I. R. Istituto di scienze, lettere ed arti Preise für die verschiedensten Industrie- und Manufakturprodukte vergeben. Die Mailänder Firma Bellini e Turpini erhielt eine Silbermedaille für „una maglia di seta vestita del pelo di pinna marina, più comunemente detto pelo d’ostura“. Es scheint, als ob hier zum ersten Mal Muschelseide als hochwertiges Handelsgut eingeführt worden wäre: „L’introduzione nel regno di questo nuovo genere di stoffa siccome diverrà un oggetto del lusso più ricercato, così non sarà senza vantaggio del nostro commercio.“ (Biblioteca italiana1818/12). In einer 1824 publizierten Tabelle werden Bellini e Turpini als inventori – Erfinder – aufgelistet. Woher eingeführt? Aus den Tuchfabriken aus Frankreich oder Monschau?
Im Artikel Dell’industria manifatturiera in Italia wird – allerdings nur als Anhang – die Fabrikation von Muschelseide in Tarent erwähnt: „Come appendice a quel che abbiamo detto sulle lanerie, aggiungeremo alcune parole sulla lana pinna, o lana pesce, di marina, specie di prodotto che i Tarantini estraggono da alcune bivalve (pinna rudis et nobilis di Linneo)…“ (Maestri 1858). 1867 wird die Tyrranei der Mode bedauert, die sich eben nicht für die lokal produzierte Muschelseide einsetze: „La tirannide della moda non ha mai imposto tali abiti alle donne, quindi mai questa industria locale ha preso, come suol dirsi, ampio sviluppo.“ (de Simone 1867)
Sardinien
Im 9. Jahrhundert ist eine Bestellung von Muschelseide des päpstlichen Hofs, gerichtet an die Richter Sardiniens, bekannt (mehr darüber im Kapitel Historische Aspekte → Mittelalter). Frühere Erwähnungen sind nicht bekannt. Dass Titos Geliebte Berenice das Wissen um die Muschelseide nach Sant’Antioco auf Sardinien gebracht habe und dieses in weiblicher Linie als Familiengeheimnis über viele Generationen in die heutige Zeit überliefert worden sei, muss als moderne Legende betrachtet werden.
Erst im 19. Jahrhundert taucht der Begriff Muschelseide wieder auf – wiederum mit Bedauern über den Rückgang der Produktion. 1820 berichtete der Priester Antonio Giovanni Carta dem sardischen Generalintendenten über die politische und ökonomische Situation in seiner Provinz. Ein ganzes Kapitel ist dem Thema Muschelseide gewidmet; er sieht einen der Hauptgründe für den Niedergang des Handwerks in der traditionellen Art der Muschelernte: „La pesca della pinna nobilis era avvenuta con metodi ed arnesi tradizionali che, spesso, causavano la rottura delle valve con conseguente perdita sia dell’animale che del bisso“ (Addari Rapallo 1993). Er spricht als erster vom Aufbau einer pinnicoltura rationale, einer Muschelzucht, um die konstante Lieferung des Rohmaterials zu gewährleisten.
Alberto della Marmora (1789-1863), General in der piemontesischen Armee und Naturforscher, publizierte 1826 ebenfalls eine ausführliche Studie: Voyage en Sardaigne de 1819 à 1825 ou description statistique, physique et politique de cette île, avec des recherches sur ses productions naturelles et ses antiquités und berichtet darin über die Muschelseide-Verarbeitung: „Les bas-fonds de la Sardaigne surtout depuis l’île de l’Asinara jusqu’à La Maddalena, et ceux de San Pietro et de Saint Antioco, fournissent le pinne-marine en assez grande quantité. La ‚gnaccara’ qu’on en tire est filée a Cagliari, ou j’en ai vu une quantité suffisante pour en fabriquer des châles et des chapeaux ; des gants, faits de cette substance, sont assez communs dans l’île“. (de la Marmora 1826) Die Edle Steckmuschel wird vor allem an der Nordküste Sardiniens und um die Inseln San Pietro und Sant’Antioco geerntet, die Verarbeitung der Haftfäden findet in Cagliari statt: zu Schals und Mützen, und vor allem zu Handschuhen, die auf der Insel recht verbreitet seien.
Noch wenig erforscht ist die Geschichte der Muschelseideverarbeitung auf La Maddalena. Dort war das Hauptquartier von Lord Nelson, als er 1803-1805 Toulon belagerte. Gut möglich also, dass die Handschuhe, die er seiner Geliebten Emma Hamilton nach England schickte, von dort stammten (siehe Historische Aspekte, Neuzeit → Giuseppe Capecelatro). William Henry Smyth (1788-1865), Admiral der Royal Navy, bereiste 1824 Sardinien und verfasste 1828 den umfangreichen Sketch of the present state of the Island of Sardinia. Er schreibt: „Le grandi quantità di gnacchere nelle tranquille baie di Poglio (Porto Pollo), Liscia, Puzzo (Porto Pozzo) ed Arzachena permetterebbe di dar vita a un facile commercio con la tessitura dei loro filamenti, ma c’è solo una donna che si darà la pena di farne dei guanti; né maschio, né femmina si metterà al lavoro.“ Nur eine einzige Frau nütze die reichen Vorkommen der Edlen Steckmuschel und verfertige aus den Haftfäden Handschuhe.
Lovisato spricht 1884 von einer Luxuskuriosität, die jedoch erhebliche ökonomische Vorteile al povero paese di Maddalena gebracht hätte. Dort sei die Muschelseide noch verarbeitet worden, wenn auch im kleinen Rahmen. Nach Zanetti (1964) hatte Basso- Arnoux Unterstützung in seinen Bemühungen nicht nur durch den Ingenieur und Historiker Enrico Maurandi (1863-1937) von Carloforte, sondern auch durch den Amtsarzt von La Maddalena, Angelo Falconi: „Il risultato della collaborazione di questi professionisti dotti appassionati e solerti fu un’interessante collezione di artistici lavori in bisso mandata all’inaugurazione del Museo oceanografico di Monaco…“ Erste Textilobjekte sind aufgetaucht – wer weiss mehr darüber?
Frankreich
Im französischen Handelslexikon Dictionnaire universel de commerce, d’histoire naturelle, & des arts et métiers von 1738 – einem der ersten seiner Art – erscheint die Muschelseide unter Filature : „…on file de la manière qui lui est propre la soie du ver et celle de la pinne marine…“. Das wird bestätigt durch eine detaillierte Liste von Handelsprodukten aus dem Meer, die von einer Muschelseideproduktion im 18. Jahrhundert spricht, zuerst in Südfrankreich, später auch in der Normandie – allerdings fehlen auch hier die materiellen Beweise.
Kurz vor der Revolution muss die Muschelseide am französischen Hof so grossen Eindruck gemacht haben, dass sich die Königin persönlich zur Beschützerin dieser nach Frankreich importierten Industrie erklärte: „L’infortunée reine Marie-Antoinette s’étoit déclarée la protectrice de ce genre d’industrie, importé en France vers l’an 1788“ (Malte-Brun 1806). War es Swinburne, der Marie-Antoinette von der Muschelseide erzählt hatte? Dieser weilte 1783 und 1785 am Hof von Versailles und stand in der Gunst Marie-Antoinettes. Ausserdem hatte er zwischen 1777 und 1780 mehrere Reisen nach Süditalien gemacht, kannte Capecelatro und hatte ausführlich über die Produktion von Muschelseide geschrieben. Oder war es die jüngere Schwester von Marie-Antoinette, Maria-Carolina gewesen, die ebenfalls in engem Kontakt mit Giuseppe Capecelatro stand, dem wohl grössten Förderer der Muschelseide?
Die 1854 in Paris gegründete Société impériale zoologique d’acclimatation hatte eine vermehrte Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen im Tier- und Pflanzenreich zum Ziel, denn „la nature constituait un capital inépuisables“. Der Mediziner Jules Cloquet (1790- 1883) präsentiert am 11. Januar 1861 den Bericht Sur l’emploi industriel du byssus de pinnes. Er spricht darin vom ehemaligen ‘ziemlich ausgedehnten’ Handel mit Muschelseide in Italien, heute jedoch sei sie eine blosse Kuriosität für Ausländer: „Il y a quelques siècles, les tissus dont il s’agit étaient, en Italie, l’objet d’un commerce assez étendu…. Aujourd’hui le peu qui s’en fabrique est vendu aux étrangers comme objet de curiosité“. Er erinnert an den Textilindustriellen M. Ternaux und seine bewunderten Ausstellungsstücke, die leider keine Nachfolger fanden. Mangels Rohware? Oder aus Renditegründen? „Cet exemple n’a pas été imité. Peut-être la difficulté de se procurer une grande quantité de matières premières est-elle pour beaucoup dans l’oubli de cette initiative?“ Auch Cloquet schlägt den Aufbau einer Muschelzucht vor : „… certainement l’emploi de leur byssus prendrait de l’importance“. Der Société schenkt er Handschuhe en byssus.
Die Idee des Aufbaus einer Muschelzucht sollte sich erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verwirklichen, nicht in Sardinien, nicht in Frankreich, sondern im apulischen Tarent. Dort wurde unter dem Faschismus die Byssusproduktion gefördert, um die Autarkie in textilen Luxusprodukten zu stärken….
Und doch überlebte das Wissen um die Muschelseide in Frankreich. An der Ecole Française de Bonneterie in Troyes war sie 1956 jedenfalls noch Schulthema in einem Kurs über textile Materialien.
Deutschland
Erstaunlich ist, dass auch in Deutschland Muschelseide verarbeitet wurde. Monschau – oder Montjoie, wie es in der Zeit der Herrschaft Napoleons und bis 1918 hiess – liegt südlich von Aachen. Bis ins 20. Jahrhundert besass das Städtchen bedeutende Tuchfabriken. 1808 unternahm der Hamburger Reiseschriftsteller Philipp Andreas Nemnich (1764-1822) eine Reise durch die Rheinlande und berichtete darüber: „Ferner fabrizirt das gedachte Haus Bernhard Scheibler, schon seit dreißig Jahren, und bisher einzig, das Pinna – Marina Tuch. Es ist in der natürlichen Farbe der italienischen Muschelseide, nämlich eine ins Gold spielende Olivenfarbe.“ (Nemnich 1809) Eine Nachahmung – oder tatsächlich Muschelseide?
1813 fand in Aachen eine Gewerbeausstellung statt: „Zur Ausstellung der Waren in Achen hatte ich geschwind ein par kurze Stückcher blau u. Grün mit Pinne Marine melirt verfertigen laßen; wegen die Kayserinn [Marie-Louise] sich das grüne bey ihrer letzten Durchreise ausgesucht und mit nach Paris genommen hat. Bis jezt hat uns der H. Préfet noch nichts darüber geschrieben, ich hoffe indeßen, daß er für die bezahlung sorgen wird.“ Die Firma Scheibler & Lenzmann erhielt am 1. August 1813 eine ehrenvolle Erwähnung“ für besonders feine Tuche und vor allem ein Stück Tuch, gefertigt aus einem Gemisch von feinster Wolle und Pine marine, einem Produkt aus Fäden einer Muschel des Mittelmeeres, dem Byssus der Antike. Von diesem Gewebe erlaubte sich die Firma ein Stück der Kaiserin Mutter [Lätizia Bonaparte] als Geschenk anzubieten, das auch angenommen wurde.“ (Barkhausen 1925)
Im Almanach du commerce de Paris, des départements de la France, et des principales villes du monde sind mit Produktionsort Monschau aufgeführt : „Draps (fab.). Malhout, casimirs, double-broche, vigogne et pinne marine“ (de La Tynna 1820).
Im (Vollständigen) Lexikon der Waarenkunde in allen ihren Zweigen von 1840 finden wir „Pinne marine, ein feines, 3/4 Brabanter Elle breites, olivenfarbiges, goldschillerndes, der Farbe der Muschelseide ähnliches Tuch, welches in den belgischen Fabriken zu Ensival und Verviers, sowie in denen zu Eupen und Monjoie in der preuss. Rheinprovinz verfertigt wird.“ (Jöcher 1840) Eupen, Ensival und Verviers waren von 1795 bis 1815 ebenfalls unter französischer Herrschaft – sie gehören heute zu Belgien. Hier also klar ein Imitat. Zweifel sind angebracht. Wo handelt es sich bei all diesen Fabrikaten tatsächlich um echte Muschelseide, wo um ein Imitat? Heiden (1904) verstärkt diese Zweifel in seinem Handwörterbuch der Textilkunde aller Zeiten und Völker unter dem Stichwort Pinna Marina: „In den niederl. Fabriken wurde früher auch unter diesem Namen ein feines, olivenfarbiges, in Gold spielendes Tuch angefertigt, das die Farbe der Muschelseide nachahmen sollte und zu Kleidungsstücken verwendet wurde.“
Dass in Monschau aber tatsächlich auch Muschelseide verarbeitet wurde, zeigt der erstaunliche Fund eines Stoffmusters in einem Musterbuch von 1800. Johann Heinrich Scheibler (1705– 1765) war es, der sich ab 1724 in Monschau „auf in Garn, Färbung und Musterung exquisite Hochpreisware spezialisierte“. Seine Nachkommen begannen ab den 1770er Jahren mit neuen Materialien zu experimentieren. „Ferner fabrizirt das gedachte Haus Bernhard Scheibler, schon seit dreißig Jahren, und bisher einzig, das Pinna-Marina Tuch. Es ist in der natürlichen Farbe der italienischen Muschelseide, nämlich eine ins Gold spielende Olivenfarbe. Die Breite ist 5/8 Stab5; der Stab kostet 8 à 9 Louis d’or. Die Fabrikation ist äusserst schwierig, insonderheit das Walken. Ueberhaupt ist dieses Tuch eine bloße Seltenheit, und wird nur zufällig begehrt.“ (Nemnich 1797). Das mit einiger Detektivarbeit schliesslich gefundene Tuchmuster besteht aus Merinowolle mit eingewebten Fäden aus Muschelseide. „L’échantillon … dans lequel la soie de pinnemarine ne fait que le poil, c’est à-dire l’endroit du tissu, a l’aspect d’une peau de bête, d’une grande finesse, telle, par exemple, que le poil de castor. Ce tissu est doux et soyeux au toucher ; mais il offre néanmoins plus de rapport avec la laine qu’avec la soie.“ Dieser Eintrag von 1857 im Dictionnaire général des tissus anciens et modernes beschreibt das Tuchmuster perfekt (Maeder 2013, Sicken 2013).
Spuren der Muschelseide in die Schweiz
Tatsächlich, es gibt sie. In einer Geschichte der Zürcherischen Seidenindustrie von 1884 wird über die Tätigkeit des Seidenfabrikanten Heinrich Werdmüller (1554-1627) berichtet: „Ebenfalls aus Italien, über ihren Korrespondenten Jacob Ravizza in Venedig, bezogen sie zwischen 1600 und 1602 die so genannte Meerseide, die aus den Fäden der im Mittelmeer verbreiteten grossen Pinnamuschel gewonnen wurde. Sie wollten wohl diese Meerseidenfäden mit Florettseide verarbeiten.“ (Bürkli-Meyer 1884) Florettseide ist ein Abfallprodukt der Seidenherstellung. Ob diese tatsächlich hätte mit Muschelseide gemischt werden sollen, darf bezweifelt werden. Dafür waren die Preise für das Rohmaterial wohl zu hoch.
Die 1822 gegründete Florettspinnerei Ringwald (nicht Ringrald, wie in der Literatur vermerkt!) in Füllinsdorf im Kanton Basel-Landschaft war im 19. Jahrhundert eine der grössten Spinnereien der Schweiz. Anfangs des 20. Jahrhunderts soll sie – über eine Firma Sala in Como – 2 Kilo Muschelseide aus Sardinien erhalten haben. Der Auftrag war zu prüfen, ob Muschelseide maschinell verarbeitet werden könnte. Er soll abgelehnt worden sein mit der Bemerkung, wegen des verschmutzten Rohmaterials wären die Maschinen für die Reinigung anschliessend zwei Tage ausser Betrieb gewesen (Basso-Arnoux 1916).
Handelspreise. Was wissen wir über die Handelspreise von Textilien aus Muschelseide? Auch hier Widersprüchliches. Einige Zahlen:
1771 Riedesel: „Die Fischer verkaufen diese rohe Wolle, das Pfund 12-16 Carlini, und ein paar Handschuhe wird um 30, ein paar Strümpfe aber um 100-120 Neapol. Carlini, oder 10-20 Ducati verkauft“. Zur gleichen Zeit, ebenfalls in Tarent, kostet ein Cantaro (ca 90 kg) roher Baumwolle 4 Ducati! Ein Paar Strümpfe aus Muschelseide gleich teuer wie rund 300 kg Baumwolle!
1793 von Salis-Marschlins: „Ein paar Weiberhandschuh kosten an Ort und Stelle 16 neapolitanische Carlins, oder 3 Gulden 10 Kreuzer Reichsgeld. Ein paar Strümpfe 3 bis 4 neapolitanische Dukaten und das übrige im Verhältnis. Bey allem dem ist der Vertrieb dieser Waare nicht sehr gross.“
1804 Tarent, aus einem Waren-Lexicon: „Die rohe Muschelseide kostete damals 16 Carlini das Pfund; die gesponnene 10 Carlini die Unze; das Paar Mannshandschuhe 13, Frauenhandschuhe 17-18 Carlini, Strümpfe 9 Dukati (zu 1 fl. 57 kr.); eine Weste 30, ein Rok 100 Dukati.“ (Leuchs 1835)
1867: „Una libbra di antica misura napolitana (0,321) di lanapenna, come comperasi dal pescatore, per rendersi atta al lavoro, riducesi ad oncie 8 (0,214). Ogni libra costa: al pescatore: L. 04:00, per lavatura: L. 01:06, per cardatura, e filatura L. 00:51, totale L. 05:57.“ (de Simone 1867)
Einiges spricht dafür, dass man zu keiner Zeit von einer eigentlichen Muschelseide-Industrie sprechen kann. Meistens waren es Frauenklöster oder Mädchenschulen oder Waisenheime, welche deren Verarbeitung pflegten. Auch die Heimarbeit dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben. Ende des 19. Jahrhunderts soll die gesamte Jahresproduktion wenige hundert Kilo betragen haben (Brühl 1938). Mit all diesen Zitaten kann einer weiteren modernen Legende, dass Muschelseide nie in den Handel kam und nicht verkauft werden durfte, widersprochen werden.